Flamenco

Sternenkind08

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Flamenco​



Der kurze Augenblick absoluter Stille auf der Bühne, der die Zeit anhalten lässt und sich zusammenballt, gehört mir allein. Ich fühle die ungeheure Intensität, wenn ich den Soleá Begegnung mit dem Feuer, beginne. Die Bühne ist dunkel bis auf einen Scheinwerfer, der auf mich gerichtet ist und das Rot meines Kleides wie lebendige Flammen erstrahlen lässt. Noch schweigen die Musiker und die Instrumente. Mein Blick besitzt die Kraft, die Menschen im Zuschauersaal das Atmen vergessen lässt und ich weiβ um meine Macht über sie, steigere die Spannung zur Unerträglichkeit. Langsam stampfen meine Füβe auf, der scharfe Knall meiner Holzabsätze, leitet den Beginn der Choreografie ein und meine Hände beginnen mit den ersten floreos. Dann bricht aus meinem Körper, die ganze Leidenschaftlichkeit von Lust und Schmerz hervor. Es ist ein Feuer das sich entzündet. Ein uraltes Feuer, Jahrtausende pulsiert es in unseren Adern.
Inmitten dieses elektrisierenden Augenblicks von Rhythmus und Klang, frage ich mich ob sich das Leben immer schneller dreht, oder ob ich das bin. Die Wildheit der ich mich hingebe, die meinen Schöpfungen Leben einhaucht, ist wie eine Reise in die Nacht.

Das wertvollste an der Nacht ist die Stille. In der Dunkelheit verliert das Licht an Bedeutung und das Leben in der Dunkelheit gewinnt an Stärke. Ich bin María Ángeles und stehe auf der Bühne des Teatro de la Maestranza in Sevilla. Mir ist schwindelig in den dunklen Schatten, aber ich schließe die Augen und stelle mich der Herausforderung, auch wenn ich die Kraft des Feuers nicht mehr kontrollieren kann. Es ist so, als wenn ich es nicht mehr aufhalten kann. Wie eine Sucht brauche ich den Applaus der Menschen und fühle den Stromschub, der mich jedes Mal von neuem ergreift, und mich auf die groβen Bühnen dieser Welt katapultierte.
Der Rhythmus steigert sich mehr und mehr und ich höre auf zu denken, ich tanze und tanze im Auge eines Sturmes, ein heiliger Moment wo sich alles in Stille auflöst.


Das Leben dreht sich immer schneller, oder bin ich es, die sich schneller dreht? Erneut stellte ich mir diese Frage. Ich saβ nach meiner Aufführung in meiner Garderobe und blickte in den Spiegel. Wie gewohnt lächelte mir María Ángeles entgegen. Das Kinn leicht angehoben mit dem stolzen Blick. Als ich aber dem Blick meiner Augen standhielt, stürzten Gefühle von Verlorenheit und Hilflosigkeit über mich herein die mich verwirrten.

Hals über Kopf zog ich mich um, warf mir einen Schal über die Schultern und flüchtete zum Hinterausgang des Theaters hinaus. Ich schaffte es unbemerkt, den Paseo de Cristobal Colon zu überqueren und wandte mich entschlossen in Richtung zum Fluss. In einer einfachen Jeans und Hemdkragenbluse, war ich nicht mehr die berühmte Flamencotänzerin, obwohl das Theater keine zwanzig Meter entfernt. Ich war eine unbekannte junge Frau, die niemand beachtete. Es war eine laue Septembernacht, aber vom Fluss wehte ein erfrischender Wind der mich ein wenig frösteln lieβ. Am Wasser setzte ich mich auf die Mauer die das Ufer umsäumte, die Beine hatte ich angezogen und schlang meine Arme um die Knie. Der Wind half, mich zu beruhigen, aber nicht völlig. Noch immer war ich erregt und blickte hinab auf das gurgelnde Wasser des Guadalquivir, der teilnahmslos dahin floss, oder murmelte er mir etwas zu? „Wer bist du wirklich, María Angeles, wer bist du?“
Da wusste ich, dass ich nicht glücklich war, weil ich nicht wirklich ich selbst sein konnte. Warum nur nicht? Wer war ich wirklich? Das musste ich heute Nacht herausfinden, oder ich würde dem allem ein Ende machen. Dazu war ich entschlossen.

Meine Gedanken kehrten in die Vergangenheit zurück, in jene Zeit, als ich ein achtjähriges Mädchen war und in einem kleinen Bergdorf in Andalusien lebte…

Der Tag meines Abschieds von zu Hause wird wohl für immer in meiner Erinnerung bleiben. Wie ich auf der Bank vor unserem Haus saβ und der Sonne nach blickte, die den Berghang bis ins Tal hinab nochmals im goldenen Lichte aufleuchten lieβ, bis sie hinter der Bergkuppe verschwand. Ich machte einen tiefen Atemzug, so als wollte ich ein letztes Mal meine Heimat einatmen, den würzigen Duft der Bergwiese mit dem Thymian, den Rosmarin und Lavendelsträuchern.
Morgen holt mich Dona Carmen Cortes mit ihrem groβen Auto ab und bringt mich nach Madrid. Ich war ein wenig bange, aber ich war auch voller freudiger Erwartung, hatte ich bei dem Wettbewerb in La Ronda, als Beste im Flamenco Tanz der Kinder abgeschlossen. Darüber war ich mir bewusst, dass ich das Glück hatte, von so vielen Mädchen ausgewählt worden zu sein.

„Wir machen aus dir eine wirkliche Tänzerin, aber das wird einige Jahre dauern. Liebst du den Tanz so sehr, dass du glaubst das durchzustehen?“, fragte Dona Carmen. Sie war eine Meisterin des Flamenco, ihr Gesicht war von strenger Schönheit geprägt und flöβten mir Angst und gleichzeitig Bewunderung ein. Ich nickte stumm.
„Du beginnst mit einer klassischen Ballettausbildung, spanischem Tanz und kommst parallel in meine Klasse der Academia Amor de Dios…“
Gedanken wie: Madrid ist so groβ, dass ich mich dort verlaufen werde, gingen mir durch den Kopf. Oder: wie lange werde ich meine Familie nicht sehen? Doch ich schwieg, meine Kehle war wie zugeschnürt, es war alles so plötzlich gekommen.

Achtzehn Jahre waren seitdem vergangen, aber ich wusste, dort in der Ferne der Erinnerung lebte immer noch das kleine Mädchen María. In jener vergangenen Ferne verlor ich etwas sehr wertvolles, etwas, was ein tiefes Loch in meiner Brust hinterlassen hat.

Der Koffer mit den wenigen Habseligkeiten war gepackt. Ein kleiner Koffer, viel besaβ ich nicht, auβer meiner Tanzschuhe, mein Onkel hatte sie mir geschenkt, sie waren von ihm selbst angefertigt und bedeuteten mir alles. Da durchzuckte mich plötzlich ein Gedanke: der Verlust meiner Schuhe. Denn kaum in Madrid angekommen, erhielt ich von Dona Carmen, ein Geschenk.
„Die sind für dich.“ Damit übereichte sie mir strahlend ein paar Ballettschuhe. „Die alten Dinger brauchst du nicht mehr.“


Der letzte Flussdampfer legte gerade am Pier bei der Torre del Oro an. Das ausgelassene Lachen der Touristen drang bis zu mir herüber und holte mich in die Gegenwart zurück. Es musste gegen Mitternacht gewesen sein. Der Wind hatte noch mehr aufgefrischt. Ich öffnete meine Haare und lies sie vom Wind streicheln. Tauchte erneut in die Vergangenheit und fragte mich was geschah damals wirklich? Meine Mentorin und inzwischen gute Freundin Carmen Cortes, wollte nur mein Bestes und hielt ihr Versprechen ein.
Es folgten lange Jahre mit langen Tagen, ausgefüllt mit vielen Stunden des Unterrichts und unermüdlichem Üben. Einmal im Jahr besuchte ich mein Heimatdorf und fiel meinen Eltern in die Arme. Die Jahre verstrichen und ich begann mit Tourneen. Die erste Aufführung war in Sevilla, genau wie heute, im Teatro de la Maestranza. zum Festival del Flamenco. Das muss zehn Jahre her gewesen sein. In unserer Compania de danza, bildeten wir eine Gruppe junger Leute. Am Tag der Aufführung bummelten wir Nachmittags durch die Altstadt und verliefen uns in den verwinkelten Gassen um den Alcazar. Plötzlich stand ich vor einem alten Laden für Flamencoschuhe und wollte da hinein, die anderen bekundeten keinerlei Interesse und lachten nur über die staubige und altmodische Auslage. Ich aber war entschlossen und deutete auf das Café an der gegenüberliegenden Straβenecke. „Wartet dort auf mich, ich komme gleich nach“ rief ich ihnen noch zu und öffnete die Tür. Wie magisch von dem Laden angezogen ging ich hinein und kam in eine Werkstatt, es war kühl und roch nach Leder und schimmelig. Mir schauderte und ich brauchte eine geraume Weile um mich an die Dunkelheit zu gewöhnen, aber dann sah ich den alten Mann mit schneeweiβem Haar der über seine Arbeit gebeugt war. Er war völlig davon absorbiert und sah nicht einmal auf. Neugierig trat ich näher und sah auf dem Arbeitstisch vor ihm ein Paar schwarze Schuhe.

„Hollá! Da bist du endlich.“ Er hatte mir nun sein Gesicht zu gewandt und ich blickte in Augen, die von einer solchen Kraft waren, dass ich sie nie mehr aus meinem Gedächtnis auszulöschen vermochte. Es waren leuchtende, sehr dunkle Augen und wie befehlend, ein Blick der seltsam lange an mir anhaftete während er mit mir sprach.
„Die Schuhe sind gerade fertig geworden.“ Ein Lächeln breitete sich jetzt auf seinem Gesicht aus, als er sie mir reichte. Ein Lächeln, welches sein Gesicht verwandelte. Die Augen zwinkerten mich an und strahlten eine Heiterkeit aus, dass ich den Alten nur noch lieb gewinnen konnte. „Probier sie an, sie sollten passen.“
Prüfend befühlten meine Hände das Leder und ich erkannte, wie edel es war. Die Holzabsätze waren mit Nägeln beschlagen. Ohne Zögern schlüpfte ich in die Schuhe. Sie passten, und ich probierte gleich die ersten Schritte der Anfangspassage aus meiner Choreografie, stampfte mit den Füssen auf den Steinfuβboden, der die stakkatoartigen Schläge der Absätze widerhallten lieβ, dass es eine Freude war.
Der alte Mann lachte und klatschte in die Hände. „Du wirst mit diesen Schuhen nicht nur heute Abend Ansehen erhalten, die Bühnen der ganzen Welt werden sich dir öffnen.“
„Und der Preis?“, fragte ich schüchtern.
„Der Preis, den ich dir nenne, kostet ein paar Peseten.“ Wieder sah er mich mit diesem Blick an, als vermochte er damit meinem tiefsten Inneren alle Geheimnisse zu entlocken. „Den wirklichen Preis bezahlst du dadurch, wie viel Seele du geben wirst für deinen Erfolg.“
Ich meinte damals seine Worte nicht richtig verstanden zu haben. Hastig holte ich meine Geldbörse hervor, legte einige Pesetenscheine auf den Tisch, bedankte mich und ging.

Ein Jahr später kehrte ich nach Sevilla zurück. Ich beschloss dem Alten nochmals einen Besuch abzustatten und mich zu bedanken. Hatten sich seine Worte mehr als erfüllt. Aber vergeblich, obwohl ich alle Gassen um den Alcazar absuchte, ich fand den Laden nicht mehr.

Ich war erneut in der Gegenwart und blickte hinüber zu den Lichtern der Häuser, auf der anderen Seite des Flusses. Langsam begann ich zu begreifen, dass ich meine eigene Gefangene war und lieβ den Tränen über meine Verzweiflung freien Lauf. „Nein!“, schrie ich.

„María Angeles?“ Neben mir tauchte plötzlich Felipe auf. „Ich hatte es irgendwie geahnt“, sagte er. Felipe, mein guter langjähriger Freund und Gitarrist in unserem Ensemble, hatte sich neben mich auf die Mauer gesetzt und legte tröstend seinen Arm um mich.
„Was ist los, María? So kenne ich dich gar nicht, aber nachdem du nach dem Auftritt plötzlich wie vom Erdboden verschluckt warst, habe ich mich auf die Suche gemacht. Letztes Jahr saβen wir mal am späten Nachmittag hier, erinnerst du dich noch? Wir lachten und wollten die ganze Welt mit unserem Tanz erobern. Und jetzt das?“ Er schwieg.

„Es geht um meine wahre Identität“, brachte ich langsam die Worte hervor. „Ich stelle seit Jahren etwas dar und bin es nicht wirklich. Verstehst du?“, fragte ich verzweifelt. „Ich bin nicht das Feuer, ich stelle es nur dar!“
„Was?“ Felipe sah mich verständnislos an. „Du kommst jetzt mit, wir gehen ein paar Tapas essen und trinken dazu ein Glas Wein.“ Damit zog er mich sanft von der Mauer herunter und führte mich in eine der Bodegas hinter der Stierkampfarena.

„So und nun erzählst du mir bitte alles genau der Reihe nach“, forderte er mich auf. Die Heiterkeit und ausgelassene Stimmung der Menschen im Lokal spendete mir ein wenig Wärme. Dazu der Rotwein und Felipe, der mir gegenübersaβ. Felipe zog alle Blicke auf sich. Eine schwarze Lockenpracht, die ihm weit über die Schultern reichte und die stolzen Gesichtszüge eines Gitanos, sprachen für sich. Seine dunklen Augen ruhten aufmerksam auf meinem Gesicht und sprachen mir Mut zu, so dass ich es fertig brachte ihm meine Geschichte anzuvertrauen.
Er sprach kein Wort und schwieg erst mal nachdem ich fertig war.
„María, du weiβt, ich bin wie du ein Gitano und glaube, dass es um unseren Urinstinkt geht. Damit meine ich die innere Freiheit und deren Verlust, den du mir gerade beschrieben hast. Deine erzwungene Anpassung.“ Felipe dachte kurz nach. „Der Verlust wird durch einen Ersatz ausgefüllt, der einen nie befriedigt und einen ruhelos weiter treibt. Aber was du beschreibst, ist in Wahrheit nicht der Verlust, ganz im Gegenteil, es wurde dir der Verlust erst jetzt bewusst und das schmerzt. Nur das Bewusstsein befähigt dich etwas zu ändern, und das kannst du immer, denn du bist in Kontakt mit dem schöpferischen Feuer in dir. Du gibst Seele für die Freude und das bringt den Erfolg, und nicht umgekehrt. Wenn du mit deiner Seele für den Erfolg zahlst, ist es der verkehrte Weg.“ Er winkte dem Kellner und bestellte eine weitere Flasche Wein, dann seufzte er und blickte mich erneut an. „Es ist nichts verloren, María. Das Leben ist lebendig und du hast Carmen Cortes viel zu verdanken.“ Er zwinkerte mir zu. „ Das Leben baut auf, und dort erneut ab. Nun bist du Carmens Schuhen und auch den Schuhen des Alten, wer immer das war…Diabolos...“, murmelte er. „Du bist diesen Schuhen endgültig entwachsen. Und wenn du etwas Wirkliches raus bringen willst, dein wahres Feuer, dann ist es an der Zeit deine eigene Compania de danza zu gründen.“
Ich blickte Felipe entgeistert an und trank mein Glas leer.
„Ich wäre sofort dabei und kenne da ein paar gute Musiker in meiner Heimatstadt Cadiz.“ Endlich ging mir ein Licht auf, ich begann zu begreifen da war etwas Lebendiges, das geboren werden wollte und Felipe hatte es erkannt. Dankbar nahm ich seine Hand und lächelte.
In diesem Augenblick näherte sich ein junger Mann mit einer Gitarre unserem Tisch. „Du bist doch Felipe, willst du uns nicht ein wenig vorspielen?“ Dann sah er mich an und ein Erkenntnisblitz huschte über sein Gesicht. „Ich habe dich nicht erkannt, oh verzeih mir María Ángeles.“ Er verbeugte sich und reichte Felipe seine Gitarre. Felipe stimmte sich kurz ein und begann die ersten Akkorde eines Fandangos zu spielen. Spontan erhob ich mich und begann in Begleitung der klatschenden Menschen zu tanzen…

2009



 
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