Goldfisch schrieb:
Dann will ich mal ein paar Zeilen aus
Psychologie Heute 03/2003 zitieren
Danke für den Link, Goldfisch. was Weber und Keupp da absondern, ist wirklich lesenswert. Ich hab nun wirklich fast alle Bücher Hellingers gelesen, habe ihn in der Grazer Synagoge während eines Wochenendes persönlich erlebt (er war von der Jüdischen Kultusgemeinde eingeladen worden) ... was seine beiden Kritiker da von sich geben, ist Agitprop von der allerbilligsten Machart, so transparent, dass ich mich freue, dass du hier die Quellen deines kritischen Ansatzes transparent machst. Wie Klaus Weber es in seinem Schlusssatz formuliert: "Seine (Hellingers) explizite Anerkennung der Grundhaltung Adolf Hitlers und seine antisemitischen Anspielungen zeigen, dass Hellinger ein politisches Projekt verfolgt, das kritisiert und bekämpft zu werden verdient hat." Eine Kampfansage gegen Windmühlen, die der Kritiker vorher selbst definiert hat, und in diesem Kampf scheint jedes Mittel der Verleumdung recht zu sein. Und ein bewährtes Mittel des Agitprop: Es braucht nur zwei, drei solcher Pamphlete, und schon können sich die Sekundär- und Tertiärdenker gegenseitig kreuz und quer zitieren und den Anschein erwecken, all das entspräche tausendfach belegten Wahrheiten ... in Wirklichkeit alles nur heiße Luft. Auf
http://www.lebenskreise.info/das_dubiose_geschaeft_mit_der_information.pdf hab ich zu dem Thema einige weitere, ausführlichere Überlegungen ins WWW gestellt ... sozusagen als Gegengewicht.
Von vorn bis hinten unterstellt Weber - ohne einen einzigen Beleg dafür -, dass Hellinger ein politische Projekt betreibe. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Weber ist nicht in der Lage oder willens, zwischen marxistischer Gesellschaftstheorie und systemischer Betrachtung von menschlichen Schicksalen zu differenzieren. Wenn es nicht Dummheit ist, dann können es nur ideologische Scheuklappen sein, die ihn Sätze wie diesen formulieren lassen: "Die Verehrung Adolf Hitlers geht einher mit einem kaum verhüllten Antisemitismus." Der Agitprop-Mechanismus, der solchen Aussagen vorangeht, ist folgender (und wird in dem Weber-Artikel gleich mehrfach vorgeführt): Zuerst wird ein Zitat zusammenhanglos in den Raum gestellt, dann wird es in eindeutiger Absicht verzerrt und tendenziös interpretiert und dann wird die eigene Interpretation als Beleg, als Faktum angeführt.
Soviel zu Weber, mehr zu schreiben würde sein Pamphlet nur sinnlos aufwerten. Kann ja jeder selbst nachlesen und sich eine Meinung bilden.
Zu deinen Zitaten, Goldfisch (bei denen man nie weiß, was nun von wo zitiert und was möglicherweise auch mal ein eigener Gedanke ist ...)
Hellingers Zielvorstellung menschlichen Zusammenlebens ist Versöhnung und Harmonie. Dazu gehört auch sein eigenwilliger Umgang mit der Nazizeit. Sein Credo der Erinnerungspolitik heißt, dass die Kinder vergessen sollen, was ihre Eltern gemacht haben.
Versöhnung kann ich erkennen in der Arbeit Hellingers, das Streben nach Harmonie ist eine Unterstellung. "Annehmen, was ist" bedeutet weder Anerkennung der politischen Verhältnisse noch untertäniges Katzbuckeln vor irgendwelchen obskuren Schicksalsmächten. Und nirgendwo steht, dass die Kinder vergessen sollen, was die Eltern getan haben. Ganz im Gegenteil: In Aufstellungen kommt das bisher nicht Gesehene in den Blick ... aber nicht, um es zu verurteilen, sondern um es als Gesehenes und Geschehenes zu würdigen und zu achten (=beachten und zu sagen: ja, das war ... würdigen ist alles andere als begeistert zustimmen oder auch nur verharmlosen). Und es dann bei den Eltern zu lassen oder bei wem es war.
Goldfisch schrieb:
Für diejenigen, die Erinnerung nicht als Versöhnungsgeste für Täter und Opfer, sondern als Befreiungsprojekt verstehen wollen, hat Hellinger kein Verständnis. Ihre Anstrengungen, die gesellschaftlichen Strukturen und die Motive der Akteure von damals zu analysieren, um Gefährdungen der heutigen Gesellschaft besser verstehen und bekämpfen zu können, werden pathologisiert und mit Motiven faschistischer Täter auf eine Stufe gestellt.
Nur Versöhnung kann befreiend wirken. Unversöhnlichkeit ist (nach nahezu allen psychologischen Schulen) das Zeichen einer engen unbewussten Bindung an das Bekämpfte, ein massives Indiz für Unfreiheit, für Projektion.
Die Analyse der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von damals und der Gefährdungen der heutigen Gesellschaft werden keineswegs pathologisiert - nur handelt es sich dabei um politologische, historische und soziologische Ansätze, die mit dem methodischen Instrumentarium des systemischen Familienstellens nicht vermengt werden können, ohne beiden Disziplinen zu schaden. Die Motive faschistischer Täter - je nach Blickwinkel verschieden zu beschreiben - sind auf einer übergeordneten (aber deshalb nicht angehimmelten oder auch nur gutgeheißenen) Ebene in die gleiche Dynamik eingebunden, in der sich auf der untergeordneten Ebene und auf der anderen Seite die Opfer befinden. Das ist das "Größere", das immer wieder zur Sprache kommt, das Täter und Opfer verbindet. Das ist nicht ein ideologisches "Höheres Gut", dem Opfer zu bringen wären, und quer durch das schriftliche und das aufstellerische Werk Hellingers zieht sich als Leitfaden das Thema "Wie komme ich in meine eigene Kraft?" - das würde ich Befreiung nennen.
Im übrigen ist das nicht nur ein Thema von Bert Hellinger, sondern es kommen auch praktisch alle zeitgenössischen Komplexitätswissenschaften zu ähnlichen Ergebnissen - Chaostheorie, Tiefenökologie, Systemtheorie, die ganz was anderes ist als systemisches Stellen, auch der selbst für Marxisten wohl halbwegs unverdächtige Jürgen Habermas kommen in unterschiedlichen Terminologien zum ergebnis, dass wir als Ganze und als Ganzes Anteil an übergeordneten Ganzen und Ganzem haben ... Holons in Holarchien, um mit Ken Wilber zu sprechen. Hellinger ist da weit aktueller mit den Strömungen zeitgenössischer Philosophie und Kosmologie verbunden als jene unter seinen Kritikern, die offenbar noch im Agitprop der 1960er und im dialektischen Materialismus befangen sind (der nebstbei für ein anderes Bündel von Gräueltaten auf unserem Kontinent die Wurzeln gebildet hat).
Immer, wo einer sich gerecht fühlt oder für eine gerechte Sache streitet, hat er ein übernommenes Gefühl.
*Dann werden die Entrüsteten böse, maßen sich an, sie hätten größere Rechte als andere, und fühlen sich überlegen, wie früher die Täter.
Abgesehen von der auch von mir kritisierten Verallgemeinerung Immer teile ich diese Meinung. Wir sehen ja schon hier: Goldfisch streitet für eine seiner Meinung nach gerechte Sache ... ich auch. Ich sehe auch mein übernommenes Gefühl ich hatte Eltern, die beide unter dem Eindruck des Nationalsozialismus aufgewachsen sind und ihr Leben lang diese Prägung nicht losgeworden sind. Lange Jahre gab es erbitterte Streitgespräche, die jeweils Fronten verhärteten. Erst spät zu spät für meinen Vater, der vorher gestorben war, rechtzeitig für meine Mutter kam ich zur Aufstellungsarbeit, die mich sehen ließ, dass ich meine Eltern nicht beschuldigen konnte, dass sie waren, was sie waren. Und auch niemand sonst beschuldigen konnte, dass es war, wie es war. Und dass es vor allem für Eltern und Kinder die Bindungen der Liebe und des Lebens gibt, dass ich diesen Eltern mein Leben verdanke und bei ihnen der wurde, der ich bin. Alles andere als ein Nazi. Es war eine äußerst befreiende Erfahrung und siehe da, auf einmal konnte ich auch mit meiner Mutter anders über die Zeit sprechen, und es gerieten Dinge in Bewegung, es lösten sich Fronten. Nicht nur bei mir. Was meinst du, Goldfisch? Wenn deine Eltern Nazis gewesen wären (ich weiß es ja nicht...) bleibst du unversöhnlich bis in den Tod hinein? Verlangst du zuerst Schuldbekenntnisse von ihnen, bevor du ein mehr oder weniges mildes Urteil über sie sprichst? Fühlst du dich gerecht genug, der Richter deiner Eltern zu sein?
Gleichzeitig haben mich die Einsichten aus der Aufstellungsarbeit sehr darin bestärkt, im Bereich politischen Engagements so in meiner Gegenwart zu leben, dass ich das mir Mögliche tue, um die Erinnerung an das Schreckliche zu bewahren und vor allem auch seine Keime in der Gegenwart wahrzunehmen und zu benennen. Und wenn ich das tue, ohne den Hitler in mir zu (be-)achten, erliege ich noch mehr einer Illusion, als ich es vermutlich eh schon tue. Das sind meine übernommenen Gefühle dabei, die mich gegen diesen militante Agitprop-Maschinerie antreten lassen.
Bis auf weiteres...
Alles Liebe, Jake