Ewige Liebe

Waldkapelle

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11. Februar 2012
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Niederösterreich, Thermenregion
Der Fluss des Lebens
(für Karin)

Der Morgendunst schwebte knapp über dem Wasser, am Fluss des Lebens. An seinem Ufer stand ein unscheinbarer Baum. Doch er war ein ganz besonderer Baum, der Baum der Liebe. Ich kann mich nicht mehr erinnern wann es war, als ich als kleine Blattknospe am Baum der Liebe das Licht der Welt erblickte. Es waren viele Blattknospen auf dem Baum der Liebe aber neben mir war eine besonders hübsche. Ich mochte sie und eines Morgens benetzte ein Tautropfen ihre zarte Oberfläche. Während sie sich langsam zu einem zarten Blatt verwandelte, brach sich ein Sonnenstrahl im Tau an ihrer Oberfläche. Sie glitzerte in der Morgensonne, sie leuchtete förmlich und sie erschien mir edel und rein, wie ein Engel. Ich freute mich, dass mir diese wunderschöne Knospe so nah war und ich wusste, wenn sie die Verwandlung zum Blatt abgeschlossen hat wird sie mein Lieblingsblatt sein.
Mein Lieblingsblatt war das schönste Blatt auf dem ganzen Baum der Liebe. Wir beide wuchsen im Laufe der Zeit und mit jedem Millimeter Wachstum kamen wir uns näher. Wie sehr wünschte ich mir, dass wir uns doch einmal berühren könnten. Doch so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte sie nicht erreichen. Eines Tages sollte uns der Wind zu Hilfe kommen. Er blies kräftig durch den Baum der Liebe und alle Blätter wurden kräftig durchgeschüttelt. Die Anderen bemerkten es kaum, aber unter Hilfe des Windes gelang es uns, dass wir uns ein erstes Mal zart berührten. Es war der schönste Augenblick in unserem Leben und wir wollten dass es wieder passiert, dass wir uns wieder zart aneinander schmiegen können. Einmal, als wir beide vom Morgentau benetzt waren, führte uns der Wind wieder zusammen und wir berührten uns. Doch weil wir so nass waren, blieben wir diesmal für lange Zeit aneinander kleben. Das war das schönste Gefühl und es schien ewig zu dauern. Als wir uns von einander gelöst hatten, freuten wir uns auf die nächste zärtliche Berührung.
Aber der Baum wuchs und bald mussten wir erkennen, dass wir auf verschiedenen Ästen wuchsen und je mehr die Äste wuchsen, desto weiter entfernten wir uns voneinander. Irgendwann war sie so weit von mir weg, dass ich sie nicht mehr sehen konnte aber ich wusste, dass sie noch da war. Ich war traurig, weil ich sie nicht mehr sehen konnte und ihre zarte Berührung fehlte mir so sehr. Jeden Tag wurde meine Blattoberfläche von Tau benetzt. Der Tau glitt langsam nach unten, sammelte sich an der Blattspitze, formte sich zu einem Tropfen und unter der Macht der Schwerkraft löste sich der Tropfen und fiel nach unten. Es sah fast so aus, als würde ich weinend von meinem Lieblingsblatt träumen.
Irgendwann im Herbst begannen sich die Blätter vom Baum der Liebe zu lösen und sie fielen nach unten, in den Fluss des Lebens und trieben davon. Wohin würde sie das Leben wohl führen? In mir keimte die Hoffnung, dass die abfallenden Blätter irgendwann den Blick auf mein Lieblingsblatt ermöglichen würden, aber sie war nicht mehr da. Als auch ich mich traurig vom Baum der Liebe löste und nach unten fiel, schien es als würde ich in ein tiefes schwarzes Loch fallen. Ich viel ins Wasser und trieb, mit der Blattoberseite nach unten, flussabwärts und träumte von meinem geliebten Lieblingsblatt.
Ich weiß nicht wie lange ich so trieb. Irgendwann spürte ich wärmende Sonnenstrahlen auf meinem Rücken und erinnerte mich an damals, als sich die Sonnenstrahlen auf ihrer mit Tau benetzten Oberfläche spiegelten. An einer Stromschnelle wurde ich herum gewirbelt und meine Blattoberseite wurde nach oben gedreht und da war sie plötzlich. Mein Lieblingsblatt trieb ganz nah neben mir und ich war überglücklich. Wie lange mochte sie schon an meiner Seite gewesen sein? Egal! Hauptsache sie war da und wieder gelang es uns, dass wir so nah aneinander gerieten dass wir uns zärtlich berühren konnten. Wir fühlten uns wie im 7. Himmel und keine Worte können dieses Glücksgefühl auch nur annähernd beschreiben. Gerade als wir dachten, dass wie jetzt für alle Zeit Seite an Seite gemeinsam durch den Fluss des Lebens treiben könnten, kam die nächste Stromschnelle und trennte uns.
Ich war wieder alleine und träumte von meinem Lieblingsblatt. Ich dachte an jenen ersten Augenblick, wo sie der Tau und die Sonnenstrahlen so göttlich erstrahlen ließen. Sie strahlte damals nur für mich. Sie ist mein Lieblingsblatt, ich liebe sie bis in alle Ewigkeit!
Wo mag sie jetzt sein? Und während ich langsam auf dem Fluss des Lebens dahin treibe, denke ich an sie. An ihr wunderschönes Lächeln, ihre zärtlichen Berührungen und ihren gütigen Blick. Und tief in meinem Herzen ist die Hoffnung, dass wir vielleicht noch einmal ein Stück gemeinsam treiben dürfen. Und vielleicht, dürfen wir uns irgendwann noch einmal berühren.
 
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