etwas trockene Materie: Nichtanwendungserlasse

hoan

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aber nicht uninteressant:

(wer es lesen mag)

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DEUTSCHER INDUSTRIE- UND
HANDELSKAMMERTAG
xx
ZENTRALVERBAND DES
DEUTSCHEN HANDWERKS
xxx
BUNDESVERBAND DEUTSCHER
BANKEN
xxxx
HAUPTVERBAND DES
DEUTSCHEN EINZELHANDELS
xxxxx
BUNDESVERBAND DER DEUTSCHEN
INDUSTRIE
xxxx
BUNDESVEREINIGUNG DER
DEUTSCHEN ARBEITGEBERVERBÄNDE
xxxxx
GESAMTVERBAND DER DEUTSCHEN
VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT
xxxxx
BUNDESVERBAND DES DEUTSCHEN
GROSS- UND AUSSENHANDELS
xxxxx

An den
Vorsitzenden des Finanzausschusses
des Deutschen Bundestages
Herrn Eduard Oswald, MdB
Platz der Republik 1
11011 Berlin
Nichtanwendungserlasse im Steuerrecht
27. Februar 2009
Sehr geehrter Herr Oswald,
wir möchten Ihr Augenmerk in Ihrer Funktion als Vertreter der Gesetzgebung auf Praktiken der
Finanzverwaltung lenken, die seit langem nicht nur von Wirtschaft und Bürgern, sondern auch
vom Bundesfinanzhof (BFH) und in der Wissenschaft als nicht hinnehmbar empfunden werden.
Konkret geht es dabei zum einen um die Praxis der Finanzverwaltung, ihr missliebige
Rechtsprechung des höchsten deutschen Finanzgerichts, des BFH, durch sog. Nichtanwendungserlasse
„auszuhebeln". Zum anderen betrifft es die Ausnutzung des Verfahrensrechts in
einem sicher vom Gesetzgeber nicht gewollten Sinne, mit dem bereits das Ergehen aus Sicht
der Finanzverwaltung „unliebsamer" höchstrichterlicher Entscheidungen verhindert werden soll.
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Wir bitten daher den Finanzausschuss des Deutschen Bundestages, sich dieser Problematik
kritisch anzunehmen und gegenüber der Bundesregierung bzw. dem Bundesministerium der
Finanzen auf einige substanzielle Änderungen hinzuwirken. Hier wäre aus unserer Sicht
insbesondere erforderlich,
- dass grundlegende BFH-Entscheidungen zeitnah im Bundessteuerblatt bekanntgegeben und
Steuerbescheide unter Berücksichtigung der BFH-Rechtsprechung erlassen werden, und
dass andernfalls - sofern die Finanzverwaltung eine von der höchstrichterlichen Rechtsprechung
abweichende Rechtssauffassung vertritt und eine Änderung dieser Rechtsprechung
in einem gleichgelagerten Fall erwartet - Steuerbescheide insofern zumindest
vorläufig ergehen;
- dass Nichtanwendungserlasse immer im Bundessteuerblatt veröffentlicht und mit einer
tragfähigen rechtlichen Begründung versehen werden, denn der Bürger hat einen Anspruch
darauf zu erfahren, warum eine bestimmte Verwaltungsentscheidung getroffen worden ist.
Es erscheint jedenfalls nicht plausibel, dass Gerichtsentscheidungen begründet werden
müssen, Nichtanwendungserlasse, die Gerichtsurteilen die Allgemeinwirkung nehmen sollen,
hingegen nicht;
- dass die Finanzverwaltung in Steuerbescheiden, die auf einem Nichtanwendungserlass
beruhen, auf die abweichende Rechtsprechung des BFH hinweist, damit die Steuerpflichtigen
im Zweifel ihr Recht im Hinblick auf abweichende Rechtsprechung gerichtlich
überprüfen lassen können. Dies ist aus Gründen der Rechtssicherheit sowie zur Gewährleistung
eines gerade in solchen Fällen zur gleichmäßigen Rechtsanwendung notwendigen,
effektiven Rechtsschutzes unverzichtbar;
- dass das Bundesministerium der Finanzen künftig in regelmäßigen Abständen die Bundestagsabgeordneten
über Fälle unterrichtet, in denen Steuerpflichtige im Zusammenhang mit
Revisionsverfahren beim BFH durch Erlass abhelfender Steuerbescheide klaglos gestellt
wurden.
Zur Begründung dieser Petiten weisen wir auf Folgendes hin:
I. Nichtanwendungserlasse
In der Öffentlichkeit ist in jüngster Zeit - unter anderem durch Äußerungen des BFHPräsidenten
- die Praxis von sogenannten Nichtanwendungserlassen der Finanzverwaltung
problematisiert worden. In derartigen Erlassen ordnet das Bundesministerium der Finanzen
(BMF) an, dass bestimmte Rechtsgrundsätze, die der BFH in einer konkreten Entscheidung
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aufgestellt hat, von der Finanzverwaltung nicht oder jedenfalls nicht vollumfänglich über den
entschiedenen Einzelfall hinaus anzuwenden sind. Die Wirtschaft kritisiert bereits seit langem
eine derartige Praxis, da hierdurch häufig eine für den Steuerpflichtigen, d. h. für Bürger und
Unternehmen, günstige Rechtsprechung zu deren Lasten konterkariert wird.
Es ist zweifelhaft, ob solche Nichtanwendungserlasse verfassungsrechtlich zulässig sind. Fraglich
ist insbesondere, ob die Finanzverwaltung, d. h. die vollziehende Gewalt, die Befugnisse
der rechtsprechenden Gewalt, d. h. der Judikative, beschneidet, wenn sie vom BFH aufgestellte
Rechtsgrundsätze für nicht anwendbar erklärt. Auf den ersten Blick erscheint dies kaum problematisch
zu sein, denn § 110 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ordnet die inter-partes-Wirkung
finanzgerichtlicher Entscheidung an, und das Gesetz geht damit gerade nicht von einer
allgemeinen Bindungswirkung aus. Andererseits ist es aber gerade die der Rechtsprechung und
insbesondere den Revisionsgerichten zugewiesene Aufgabe, im Rahmen der Gesetzesauslegung
auch auf eine Rechtsvereinheitlichung und Rechtsfortbildung hinzuwirken, d. h.
Maßstäbe über den jeweils entschiedenen Einzelfall hinaus aufzustellen.
Die Aufgabe der Gesetzesauslegung obliegt zwar sowohl der Rechtsprechung als auch der vollziehenden
Gewalt. Ohne vorangegangene Gesetzesauslegung kann schließlich die Verwaltung
keinen geordneten Gesetzesvollzug, die Rechtsprechung keine Rechtskontrolle betreiben. Für
eine Vorrangstellung der Judikative bei der Gesetzesauslegung sprechen allerdings Verfassungsgrundsätze.
Diese sind:
1. Gewaltenteilungsprinzip
Das in Artikel 20 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) verankerte Gewaltenteilungsprinzip
dient als Kernelement des Verfassungs- und Rechtsstaates insbesondere der Verhinderung
einer unkontrollierten Konzentration staatlicher Macht. Das Gewaltenteilungsprinzip weist
den drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative die durch das Grundgesetz
übertragenen Aufgabenbereiche zu und gebietet eine durch das Prinzip des gegenseitigen
Respekts getragene Loyalitätspflicht. Hieraus folgt das an die jeweilige Gewalt gerichtete
Verbot, in den Kernbereich der anderen Gewalt einzugreifen sowie die wechselseitige
Bindung an die Akte der jeweils anderen Gewalt.
Danach hat die Finanzverwaltung rechtskräftige Entscheidungen des BFH nicht nur im
Einzelfall, sondern grundsätzlich auch auf gleich gelagerte Fälle anzuwenden. Dies spiegelt
sich neben der Funktionszuweisung in Artikel 95 Abs. 1 GG auch in den verfahrensrechtlichen
Regelungen der Finanzgerichtsordnung wider, wonach die Revision gemäß deren
§ 115 Abs. 2 bei grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache, zur Fortbildung des Rechts
und zwecks Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zulässig ist. Der BFH wäre gar
nicht in der Lage, eine einheitliche Rechtsprechung „zu sichern", wenn sich die Wirkung
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seiner Urteile lediglich in der Entscheidung des jeweiligen Einzelfalls erschöpfte. Der
Gesetzgeber setzt also voraus, dass BFH-Entscheidungen über den Einzelfall hinaus
Wirkung entfalten. Deshalb stehen die Wahrung der Einzelfallgerechtigkeit einerseits und
des Allgemeininteresses an der Rechtsfortbildung und Rechtseinheit andererseits gleichberechtigt
nebeneinander.
Hinzu kommt, dass sich der Gesetzgeber offenbar häufig nicht in der Lage sieht, bei
Gesetzen als generell-abstrakten Normen den steuergesetzlichen Tatbestand so präzise zu
umschreiben, dass der Rechtsanwender die Rechtsfolge für den jeweiligen Lebenssachverhalt
exakt bestimmen kann. Deshalb finden sich in steuergesetzlichen Regelungen
oft Generalklauseln, deren Konkretisierung im Zweifel durch die Rechtsprechung zu erfolgen
hat.
2. Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz
Die Bindung der Finanzverwaltung an Entscheidungen des BFH steht freilich in einem
gewissen Spannungsverhältnis zu ihrer sich aus Artikel 20 Abs. 3 GG ergebenden Eigenverantwortung.
Denn die Bindung an Recht und Gesetz verpflichtet auch sie in eigener
Verantwortung zur Prüfung des Steuerrechts. Das sich aus der Loyalitätspflicht auf der
einen Seite und der Eigenverantwortung auf der anderen Seite ergebende
Spannungsverhältnis ist aber dahingehend aufzulösen, dass die Finanzverwaltung
Entscheidungen des BFH nur dann nicht anwenden darf, wenn sie sie für rechtlich
unvertretbar hält (vgl. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, 1993, Band IM, S. 1183).
Eine Nichtanwendung von BFH-Entscheidungen kommt demnach nur bei offensichtlicher
Rechtsfehlerhaftigkeit, d. h. nur in Ausnahmefällen in Betracht. Die Finanzverwaltung ist
aber nicht befugt, ihre lediglich abweichenden Rechtsansichten an die Stelle derjenigen des
BFH zu setzen, wie es in der Praxis der Nichtanwendungserlasse jedoch zunehmend zu
beobachten ist. Deshalb sind insbesondere die Nichtanwendungserlasse zu kritisieren, die
aus fiskalischen Gründen erlassen werden, um für den Steuerpflichtigen günstige
Wirkungen von BFH-Entscheidungen nicht zuzulassen. Nur der Gesetzgeber ist zu
Regelungen befugt, die die höchstrichterliche Rechtsprechung korrigieren. Gleiches gilt
auch für solche Nichtanwendungserlasse, die Regelungen für einen vorübergehenden
Zeitraum bis zu einer diesbezüglichen nachträglichen Gesetzesänderung treffen.
Unabhängig von der Frage nach der Verfassungsmäßigkeit von Nichtanwendungserlassen
beeinträchtigen diese die Rechtsicherheit, denn die Steuerpflichtigen können nicht darauf
vertrauen, dass die Rechtsprechung des BFH bei ihnen zur Anwendung gelangt. Vor dem
Hintergrund, dass sich das Steuerrecht in Deutschland mittlerweile zu einem äußerst komplizierten
Rechtsgebiet entwickelt hat, ist dies sehr bedenklich. In dieser bereits verfassungs-
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rechtlich nicht unproblematischen Situation sollte eine weitere Verunsicherung der Bürger
infolge einer unterschiedlichen Gesetzesanwendung durch Gerichte und Verwaltung vermieden
werden, um weiterem Vertrauensverlust und Staatsverdrossenheit entgegenzuwirken.
Nichtanwendungserlasse beeinträchtigen auch die gleichmäßige Anwendung des Steuerrechts.
Es ist bedenklich, wenn die Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung dadurch behindert wird,
dass BFH-Entscheidungen nicht auf alle gleichgelagerten Fallgestaltungen angewendet
werden. Denn dadurch wird der Steuerpflichtige, der den betreffenden Steuerbescheid widerspruchslos
hinnimmt, steuerrechtlich anders behandelt, als derjenige, der den Rechtsweg
beschreitet.
 
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*gg* Stimmt etwas trockene Materie, aber ich bin mit dem lesen von Juristendeutsch und Gesetzestexten gsd vertraut, das macht es etwas einfacher.

Mir war gar nicht bewusst, dass es offenbar dermaßen viele Nichtanwendungserlasse fürs Steuergesetz gibt. Wenn das in D so ist, wirds in Ö nicht sehr viel anders sein.

War/Ist das ein offener Brief?

lg
EnergyOfLight
 
In Ö soll der Verwaltungsfilz noch etwas ausgefeilter sein, berichten mir einige Kollegen.

Kommt darauf an, was Du unter einem offenen Brief verstehst.

Hier ist es jedenfalls gängige Praxis, das Finanzamter Urteile falsch zietieren, oder gleich gar falsche uralte zitieren!
 
Ein offener Brief definiert sich normalerweise dadurch, dass er einerseits an dem Empfänger geschickt wird, andererseits im Internet oder durch andere Medien ebenfalls veröffentlicht wird. Wird meist verwendet um eine sichere Antwort zu provozieren. Denke das wäre ein Fall, wo das gar nicht so schlecht wäre. Vielleicht etwas vereinfacht, damit sich mehr die Mühe machen, ihn auch tatsächlich zu lesen.

Nun finde ich diesen Brief total gut, da entsprechendes Handeln eine leichtere Durchschaubarkeit für die Bürger bringen würde und auch mehr Gerechtigkeit. Bloß würden sich die entsprechenden Stellen damit einerseits ins eigene Fleisch schneiden, andererseits die "Freunderlwirtschaft" (nennt man das auch in D so?) abschneiden, was meistens nicht gewünscht wird. Schließlich muss eine Hand die andere waschen *g*

Gibts in D eigentlich eigentlich eine für jeden einsehbare Sammlung der geltenden Gesetze? In Österreich ist dies z.b. das RIS - Rechtsinformationssystem (http://www.ris.bka.gv.at/). Hier findet man über die Suche auch das Steuerrecht. Wenn man als Suchwort allerdings "Nichtanwendungserlass" eingibt, gibts keine Treffer, stell ich grad fest.

lg
EnergyOfLight
 
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Hi EnergyOfLight,

der Brief wurde zwischen Organisationen offen versendet, nicht ins Netz gestellt.

Es bestätigte sich mein Eindruck, dass gerade die Finanzverwaltung gezielt Desinformationen streut und damit häufig das Recht zu eigenen Gunsten beugt. Die 170 unterschlagenen Urteile muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen !!!

Seit Einführung des http://de.wikipedia.org/wiki/Informationsfreiheitsgesetz
haben einige Bundesländer beschlossen es schlichtweg nicht anzuwenden !!!

Kaum einer kennt das Gesetz.

Die deutsche Datenbank für Gesetze lautet:

http://bundesrecht.juris.de/index.html

Viele Grüße
hoan
 
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