Aber nicht in meiner Heimat, und das ist sehr schade. Denn
ich bin durch alle Initiationen durchgegangen und habe erfahren, wie wichtig
und wertvoll sie sind. Sie sind ein Teil jenes Stoffes, der die Kultur und Dinge wie Erwachsensein, Zugehörigkeit oder Identität zusammenhält.
Und Initiationen geben einem Menschen auch das Gefühl,
eine Aufgabe zu haben, ein Geschenk für das Dorf, für die Familie zu sein.
Ich habe festgestellt, dass jene, die sich nicht initiieren ließen, sich selbst auch
oft nicht als Geschenk gesehen haben.
Dieses Lebensgefühl kommt jenem der Menschen im Westen sehr nahe: Man
geht in die Schule und lässt sich ausbilden.
Aber nicht dazu, um ein Teil dieser Welt zu werden, sondern um einen Job
zu kriegen, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erlernen im Interesse mancher Konzerne, die ihm dann den Job geben.
Aber unter dieser Oberflräche ist wenig Substanz.
Frage: Lässt sich an dieser Entwicklung etwas ändern?
Somé: Ich habe auf vielen Seminaren in Europa und Amerika festgestellt, dass
es einen großen Hunger nach ursprünglicher Weisheit gibt. Aber es scheint so,
als müsse man erst alles verlieren, bevordas Bedürfnis danach wieder erwacht.
Und Afrika scheint sich in diese Richtung zu entwickeln. Ich habe manchmal sogar das Gefühl, was immer ich auch tue, ich kann es nicht verhindern, dass dieses Wissen verschwindet. Und erst wenn esverschwunden ist, löst es eine Art existenzieller Krise aus. Was dann dazu führt, dass man wieder dort zu graben beginnt, wo man die ursprüngliche Kultur begraben hat.
Ich sehe im Westen überall schon diese Sehnsucht nach Verbindung
mit der Natur, Ritualen, Bewusstheit.
Frage: Und wo beginnt man zu graben, wenn, wie im Westen, diese Traditionen schon seit Jahrtausenden verschwunden sind?
Somé: Ja, das ist ein großes Problem. Und ich hoffe, in Afrika dauert es nicht
tausend Jahre, bis man wieder zu graben beginnt. Aber was Europa betrifft,
so sehe ich, dass hier das Bedürfnis, sich wieder mit altem Wissen zu verbinden, exponentiell steigt. Und was ich noch sehe, ist, dass die ursprünglichen Traditionen weltweit gar nicht so unterschiedlich sind.
Der Unterschied besteht oft nur in der Umwelt oder der Choreographie. In fast allen Kulturen findet man zum Beispiel Visionssuchen. Es gibt da eine Gemeinsamkeit.
Frage: Einen Samen, den man hier pflanzen könnte?
Somé: Ja, solange es nicht ein Import an Ritualen ist. Es müsste mehr so sein, dass man den Samen der Energie präsentiert, die schon hier ist. Man kann nicht etwas woanders hin verpanzen und glauben, dass es dort so sein wird wie an dem Ort, von dem es kommt.
Frage: Was bräuchte es für einen Neubeginn?
Somé: Die Sehnsucht danach.