Mein strahlendes Gesicht erstarrt zu einer ausdruckslosen Maske, als der Arzt mir die lateinische Diagnose der Krankheit mitteilt, die mein Kind haben soll. Ich verstehe nicht, bekomme nur noch Wortfetzen mit, aber Herzfehler, selten und lebensbedrohlich dringen wie durch einen bleiernen Nebel zu mir hindurch. Unfähig zu antworten, mit starrem Blick, verlasse ich das Zimmer und trotte den unterirdischen Gang entlang, zurück zur Entbindungsstation. Ich bin wie betäubt und nur langsam verblasst der noch schützende Schleier über mir und die restlichen Wortfetzen des Arztes flimmern vor meinem inneren Auge.
Komplexer mehrfacher Herzfehler, Operation am offenen Herzen, so schnell wie möglich ...
Was passiert hier gerade? Wo ist mein Kind? Langsam legt sich der Zustand der Starre und mit voller Wucht trifft mich die Realität. Meine Gefühle wechseln zwischen Hilf-losigkeit und Wut und als ich anfange zu begreifen, wie kritisch der Zustand meiner Tochter ist, breche ich zu-sammen. Als ich aus meiner Erstarrung erwache, glaube ich geträumt zu haben. Ein schlechter Traum, doch so ver-dammt realistisch. Was ist passiert? Wo war meine Toch-ter? Langsam, sehr langsam kommt die Erinnerung wieder und trifft mich erneut mit voller Kraft.
Jennifer wurde nach Gießen verlegt. Ihr Zustand ist kritisch und die lebensrettende Operation am offenen Herzen mit Herz-Lungen-Maschine muss noch in den nächsten Tagen erfolgen.
Ich möchte zu dir, aber ich kann kaum laufen, so sehr schmerzt die Narbe, durch dessen Pforte du auf die Welt kamst. Und doch ist es kein Vergleich zu den inneren Qua-len, die ich tief in mir fühle. Unglaublich der Zwiespalt der in mir wütet, viel heftiger als aller Schmerz der Welt, eine brutale Gewalt, die meine Seele zerreißt. Ich habe ein Kind geboren, ein Kind das auf Zukunft hofft und ich kann nicht sagen - ich schenk sie dir.
Noch am gleichen Tag, fahre ich nach Gießen. Ich möchte dich sehen und hören, dich einfach in den Arm nehmen. Mir tut alles weh, aber das ist unwichtig, wenn ich an die Schmerzen denke, die du bald ertragen musst. Die folgen-den Tage sind grausam. Der Schock, das bewusst werden, ein krankes Kind geboren zu haben, verankert sich tief in meiner Seele. Mit Tränen in den Augen stehe ich vor dei-nem Bett und innerlich verfluche ich den Schöpfer. Bemit-leide mich und empfinde Hass auf etwas, was ich nicht fassen kann. Du bist so unglaublich zart. So klein und zer-brechlich, und ich will nicht dran denken, was nun auf dich zukommen wird. Ich bin bei dir, so oft und so lang es geht. Freue mich über jede Mimik, über jede Bewegung und so-gar wenn du schläfst ist es eine Freude dir zu zuschauen. Ich bete oft und viel und wünsche mir von ganzem Herzen, dass du die Kraft hast zu leben, und dich nicht dagegen entscheidest und deine Augen für immer schließt.
Der Herzkatheter ist für den 30.01. geplant. Doch es ist nur eine Bestätigung dessen, was wir schon wussten. Die Kor-rektur wird für den 31.01.2003 angesetzt. Ein Datum, das ich nie vergessen werde.
Um 7.00 Uhr bringe ich dich in den OP Bereich. Die ganze Zeit über halte ich deine Hand und nur mit sanfter Gewalt gelingt es den Schwestern, mich von dir fortzuziehen. Mit Tränen in den Augen verlasse ich die OP-Schleuse, versu-che mich in den Geschäften der angrenzenden Stadt abzu-lenken, während die Ärzte um dein Leben kämpfen. In mir brodelt es, und obwohl die Operation bestimmt 6 Stunden dauern wird, bin ich nach zwei Stunden schon wieder auf dem Klinikgelände. Ich bin rastlos, habe Angst und pendele zwischen Eltern-Etage und dem Eingangsbereich der Kli-nik. Nach 6 Stunden rufe ich das erste mal auf der Intensiv-station an, aber es gibt noch keinerlei Informationen aus dem OP. Die Zeit vergeht schleppend und meine positive Einstellung weicht langsam aber sicher den schlimmsten Befürchtungen.
Wieder ist etwas Zeit vergangen und ich bin ein nervliches Wrack. Es vergehen weitere 4 Stunden, ehe die erste Info aus dem OP kommt. Jenny lebt!! Dein Anblick ist schlim-mer als ich erwartet habe. Meine Knie versagen und ich habe Mühe stehen zu bleiben. Dein Gesicht ist geschwollen und glänzt. Unnatürlich blass bist du - und die Augen sind mit Vaseline eingecremt .
Dein Brustkorb ist offen und nur durch die erste Haut-schicht verschlossen. Dein ganzer Körper ist angeschwol-len, und Kabel und Infusionen so weit ich schauen kann. Der Schlauch in deiner Nase ist mit der Beatmungsmaschi-ne verbunden, und wenn ich nicht sehen würde wie dein Brustkorb sich hebt und senkt, würde ich sagen du bist nicht mehr auf dieser Welt. Ich beobachte dich und plötz-lich spüre ich, ganz tief in mir drin, du bist am Ende deiner Kraft. So stelle ich mich der Herausforderung unseres Le-bens und unterstütze deine mentale Kraft mit meiner eige-nen physischen Stärke, kämpfe innerlich den Kampf mit Dir, aber ich bin nie allein. Deine Engel helfen mir dabei, und das Wunder geschieht. Dein Wille zu Leben - ist mäch-tiger als deine Krankheit.
Am 04.02.03 beenden die Ärzte die Dauersedierung, aber du beginnst dich erst 36 Stunden danach ein wenig zu be-wegen und Eigenatmung zu zeigen. Zudem kommt es zu einer starken Ödembildung (Wasseransammlung) und nur bei überwachter Flüssigkeitszufuhr und Medikamentengabe ist ein allmähliches Ausschwemmen der Ödeme möglich. Am 05.02.03 musst du erneut mit einem Schrittmacher stimuliert werden, da deine Herzfrequenz unter 100 abfällt.
Jeden Morgen, wenn ich zur Intensivstation gehe, hoffe ich, dass es dir besser geht und dass über Nacht keine Komplikationen aufgetreten sind. Jeder Tag bringt Höhen und Tiefen mit sich. Oft werde ich aus dem Zimmer ge-schickt, da die Ärzte Intensiv-Maßnahmen ergreifen oder andere Kinder aufgenommen werden. Zwei Tage später, am 07.02.03 wirst du endlich extubiert. Aber auch die Nar-kose bleibt bei dir nicht ohne Folgen. Mit einer Magenson-de für die Ernährung wirst du am gleichen Tag auf die In-tensivstation der Kinderklinik Aschaffenburg verlegt.
Die Situation bleibt weiterhin sehr kritisch, und niemand weiß, ob die Energie, die du bisher aufgebracht hast, stark genug ist, deinen Weg fortzusetzen. Unbewusst fürchte mich vor jedem weiteren Tag. Die Tage sind kraftzehrend und eine psychische Zerreisprobe für meine Nerven. Zwi-schen den Besuchen auf der Intensivstation sitze ich ab-wechselnd vor der Pforte oder im Elternzimmer und starre Löcher in die Luft. Nur langsam geht es aufwärts, und nach sechs langen Wochen dürfen wir das erste Mal nach Hause.
Die Freude, mein Kind endlich zu Hause bei mir zu haben, währt nicht lange. Nur 3 Tage nach unserer Entlassung bekommt Jennifer starken Durchfall und erbricht sich bei fast jeder Mahlzeit. Sie schreit nur noch und krümmt sich vor Schmerzen. Der Rettungswagen fährt uns wieder in die Kinderklinik Aschaffenburg. Der Durchfall und das Erbre-chen verschlimmern sich. Nach eingehenden Untersuchun-gen, stellen die Ärzte die Rotaviren bei ihr fest. 13 Tage sind wir jetzt wieder im Krankenhaus, bis die Infektion weitestgehend vorüber ist. Eine Infusionstherapie wird eingeleitet und sonst kann man leider nicht viel tun. Trotz Besserung des Allgemeinzustandes erbricht sie weiterhin - mindestens einmal am Tag, auch bei Fütterung durch die Schwestern und so können wir erst am 05.03.03 wieder nach Hause. Ab sofort muss Jennifer beim Schlafen 25 - 30 Grad hoch gelagert werden. Das Brechen hält an, die Ärzte haben keine Erklärung und können mir keinen Ratschlag geben.
Meine Ehe hält diesem hohen seelischen Druck nicht Stand und zerbricht an den Folgen der schweren, emotionalen Belastung und mangelnden - besser - fehlenden Gesprä-chen. Gerade in dieser Zeit hätte ich mir gewünscht, dass es Menschen gibt, die mir zur Seite stehen. Aber keiner ist da. Niemand an meiner Seite, als ich verzweifelt und stumm um Hilfe flehe. Die nachfolgende Zeit ist schwierig und für mich anfangs nahezu grotesk. Nur mit Mühe schaf-fe ich es, den Tages-Ablauf neu zu organisieren und zu ordnen. Mit einem Schlag habe ich keine Zeit mehr für meine eigenen Anliegen und die nötigen Dinge des Alltags. Alles richtet sich nach den Bedürfnissen meines Kindes, und nach und nach nehmen meine Tage abstrakte Formen an. Es gibt keinen Rhythmus, keine Schlafenszeiten und schon gar keine Regelmäßigkeit, weder am Tag, noch in der Nacht. Jedes Geräusch ist für mich auffällig, anders und bedrohlich, und so bin ich in ständiger Bereitschaft, im Falle eines Falles sofort reagieren zu können.
Die nachstehenden Monate vergehen ruhelos und unge-wohnt, sind einschneidend und prägend. Nach der großen Korrekturoperation fahren wir alle 3 Monate in die Univer-sitätsklinik Gießen zu kardiologischen Kontroll-Terminen. Jennifer nimmt von Anfang an jede unerwünschte Schwie-rigkeit mit, und Komplikation ist mittlerweile ihr zweiter Vorname. Der Druck in der rechten Herzkammer schießt in erschreckender Regelmäßigkeit in die Höhe, was sich durch vermehrtes Schwitzen, geringe Belastbarkeit, und zunehmende Zyanose bemerkbar macht.
Im Laufe der Zeit kommen immer mehr Probleme und Folgeerkrankungen hinzu, die nichts mit dem Herzfehler an sich zu tun haben. Die Grunderkrankung stellt nur die Ba-sis der zusätzlichen Beschwerden dar, die sich nach und nach leider manifestieren. Und so müssen wir in den dar-auffolgenden Monaten und Jahren noch oft in unterschied-liche Kliniken, um Lungenentzündungen oder andere nicht kardiale Erkrankungen auszukurieren. Eine weitere Heraus-forderung stellt die zusätzlich erworbene Immun-Schwäche dar, die am ehesten als Begleiterscheinung des komplexen Herz-Vitium zu deuten ist. Die damit einhergehenden In-fektionskrankheiten bescheren uns weitere nervenaufrei-bende Krankenhausaufenthalte.
Der fortwährende Kampf um einen Hauch Leben ist an-strengend. Jede weitere Diagnose verwundet mich schwer, und raubt mir mehr Kraft, als ich zuweilen bereit bin zu geben. Zwischen Klinikaufenthalten, Rehabilitations-Maßnahmen und Förderungs-Terminen wie Krankengym-nastik und Logopädie, haben wir nur selten Gelegenheit, eine längere Zeit am Stück ungestört zu genießen. Trotz motorischer und sprachlicher Förderung können wir selten einen vollendeten Erfolg verbuchen. Es ist ein ständiges Hoch und Tief und meistens ist es so, dass behobene Blo-ckaden anderen Schwächen weichen. Die geistige und mo-torische Entwicklung geht nur schleppend voran, und es dauert endlos, ehe wir ein kleines Stück vorwärts kommen. Jennifer entwickelt sich nicht wie andere Kinder, hat kein Angstpotential, kaum Ausdauer beim Spielen und ich war und bin heute noch ständig damit beschäftigt, von einer Ecke zur nächsten zu hechten, um sie aus potenziellen Ge-fahrenquellen herauszuholen. Aber trotz schwieriger und anstrengenden Situationen, die es immer wieder zu meis-tern gilt, gibt es dazwischen zahlreiche herzerfrischende und lustige Anekdoten, die mir selbst heute immer wieder ein Grinsen ins Gesicht zaubern.
So ist es nicht ungewöhnlich, wenn das Telefon plötzlich in der Badewanne klingelt, und die langvermisste Kinder-zahnbürste sich nach Wochen im Blumenkübel auf dem Balkon wiederfindet. Beim Backen auf seltsame Art und Weise Eier verschwinden und das Eigelb am Fernseher, unter Umständen auch an den Fensterscheiben, sein male-risches Ende finden. Alles ist bei uns anders. Engel haben nur einen statt zwei Flügel, Fische bekommen bei uns re-gelmäßig was zu lesen und Spielsachen ins Wasser, Blüten und Blätter sind grundsätzlich in der ganzen Wohnung verteilt, was letztendlich auch Anlass für mich war, dass Pflanzen keinen festen Platz mehr haben und auch meine Lektüren von Zeit zu Zeit umgelagert werden. Jedes Mal, entsprechend der sporadischen Entwicklung meiner Toch-ter angepasst, immer ein Bücherregal höher. Freunde, die selten, wenn überhaupt, zu Besuch kommen, werden dar-über informiert, dass es besser ist, ihren Cappuccino in der Hand zu behalten.
Im Laufe der Jahre haben sich meine Prioritäten stark ge-wandelt. Ich habe gelernt, das Leben zu schätzen und nicht als selbstverständliches Geschenk zu betrachten. Meine Sichtweisen haben sich geändert, durch die Faktoren unse-rer besonderen Lebensumstände. Auch meine Erzie-hungsmethoden sind individuell, weil Erziehung für mich nur noch nebensächlich ist. Banale Dinge haben für mich heute einen höheren Stellenwert. Ich bin dankbar für dieses Leben, für jeden einzelnen Tag, den ich mit meinem Kind verbringen darf, vielleicht auch deswegen, weil durch die Krankheit das Wissen um die Vergänglichkeit des Lebens ständig präsent ist.