Liebe Pluto, Reinfriede und ihr Mitleser,
ich halte es nicht im geringsten für verboten, nach dem "Warum" zu fragen. Es geht eher um die Bandbreite der Möglichkeiten, mit den verschiedenen (!) Antworten auf diese Frage umzugehen. Und schon gar nicht ist damit ein Gegensatz zu wissenschaftlich-kritischem Denken errichtet. Nehmt zum Beispiel die Physik: Da werden viele Fragen durch die Relativitätstheorie beantwortet - aber keineswegs alle. Von den übriggebliebenen Fragen beantwortet viele die Quantentheorie - und wirft zugleich neue Fragen auf. Dann noch die Stringtheorie und und und... alles weit weg von Eindeutigkeit. Es gibt die Urknall-Theorie, es gibt die Idee eines Multiversums als Alternative zum Multiversum, es gibt Annahmen zum Phänomen der Zeit, die mit unserer Gewohnheit, die Zeit als linearen Ablauf zu betrachten, nichts zu tun haben ... alles Versuche, auf Warum-Fragen Antworten zu finden, und keine einzige eindeutige ist dabei. Es bleiben letzten Endes Theorien, Konstrukte, die in vielen Bereichen von hohem praktischem Nutzen sind (sogar dann, wenn sie später mal durch eine andere Theorie falsifiziert werden sollten). Warum-Fragen führen immer zu weiteren Warum-Fragen, in allen Gebieten, und es gibt keinen Anhaltspunkt, warum das hier anders sein sollte.
Die Frage nach der Wahrheit (also nach der "richtigen", letztgültigen Antwort auf eine Warum-Frage) ist eine Glaubensfrage. Wenn meine Suche nach dem Warum nicht auf Modelle ausgerichtet ist, sondern auf Wahrheiten, dann lande ich zwangsläufig bei Glaubenssätzen. Kein einziger Wissenschaftler kann erklären, warum es die Welt gibt ... und damit meine ich noch nicht einmal die Warum-Frage nach dem Sinn, sondern die schlicht funktionale: Wenn ich am Ende aller denkbaren Kausalketten angelangt bin, stellt sich immer noch die Frage: Warum dieser vermutbare Anfang?
Um zum Loch im Fahrradschlauch zurückzukommen: Warum? Weil ein Nagel auf dem Radweg lag. Das ergibt eine schlichte, unmittelbare, praktische Erklärung, und man kann im Handumdrehen zur Lösung schreiten. Man kann aber auch weiterfragen. Warum lag da ein Nagel? Da wird es schon komplizierter... weil ihn jemand aus der Tasche verloren hat. Okay, aber es ist die Aufgabe des Straßenkehrers, den Radweg regelmäßig zu säubern. Warum hat der den Nagel nicht entfernt? (Nebenbei: die Verwandtschaft zur Schuldfrage lässt sich erahnen...). Ah ja, der ist heute krank... warum ist er krank? Und warum hat die Straßenverwaltung nicht rechtzeitig für einen Ersatz gesorgt? Andere Ebene der Warum-Fragen (speziell für Hypochonder zu empfehlen): Warum hat von den 237 Radfahrern, die in der letzten halben Stunde hier vorbeigekommen sind, der Nagel ausgerechnet meinen Reifen durchbohrt? Darauf könnte unter Umständen die Astrologie eine Antwort geben, zur Zeitqualität und "offenen Zeitfenstern für Ereignisse" ... aber das wirft gleich wieder eine Fülle von neuen Warum-Fragen auf, mehr als ein Hund Flöhe hat. Es ist absehbar: das könnte nun bis zu Adam und Eva so weitergehen. Welche Warum-Frage hat nun wirklich eine befriedigende Antwort gebracht?
Für die Lösungswege - Reifen flicken oder neuen Schlauch aufziehen oder mit dem Taxi weiterfahren oder im Straßengraben hocken und weinen - ist die Warum-Frage völlig unerheblich. Da genügt es, das Loch im Reifen zu sehen und daraus die Konsequenzen zu ziehen. Oder doch nicht? Muss ich nicht den Nagel von der Fahrbahn entfernen, muss ich nicht bei der Straßenverwaltung vorstellig werden und auf ein anderes Organisationsmodell drängen, damit die Radwege von solchen Gefahren verschont bleiben? Das könnte sich aus der Kette meiner Warum-Fragen ergeben ... aber das ist dann nicht mehr die Lösung des ursprünglichen Problems, sondern das sind Lösungsversuche von Problemen, die ich mir überhaupt erst durch meine Warum-Fragen erschaffen habe. Wer seinen Reifen flickt und fröhlich weiterfährt, bleibt von solchen Problemen frei. Ist das nun asozial, agiert der aus einer reduzierten Bewusstseinslage heraus?
Auch da sehe ich keine eindeutige Antwort - bzw. ich sehe nur dann eine (oder, je nachdem, eine andere), wenn ich ein ideologisches Gerüst bastele, wie "man" sich in solchen Fällen zu verhalten hat. Und damit bin ich wieder auf der Ebene der Glaubenssätze (gegen die ich nichts habe, die sind eh unausweichlich und vermutlich die einzige Möglichkeit, aus der endlosen Kette der Warum-Fragen auszubrechen). Schön, dass es solche Glaubenssätze gibt. Und folgerichtig, dass sie sich voneinander unterscheiden.
Einen solchen Glaubenssatz hat im Frühjahr Matthias Varga von Kibed bei einem Seminar erzählt, als Teilnehmer die Warum-Frage nach dem Phänomen der repräsentierenden Wahrnehmung in Rollen in Aufstellungen stellten. Er meinte, es sei für uns selbstverständlich, dass jeder ein von allen anderen abgetrennter Einzelner sei. Und das könne man hinterfragen. Wenn wir einmal annehmen, wir seien zugleich auch individuelle Ausprägungen einer gemeinsamen Ganzheit, dann sei eher vorstellbar, dass wir auch in andere Bereiche/Dimensionen dieser Ganzheit hineinspüren könnten. Ich gebe das jetzt aus der Erinnerung wieder, ohne Anspruch auf korrektes Zitieren. Für eine solche Vermutung gibt es etliche theoretische Ansätze ... die Systemtheorie mit ihrem holarchischen Modell, in dem Ganzheiten Teile von Ganzheiten sind und in sich Ganzheiten umfassen. Die Theorie der morphogenetischen Felder von Rupert Sheldrake. Die Theorie des kollektiven Unbewussten von C. G. Jung. Die Gaia-Hypothese von Lovelock e.a. ... alles Modelle, auf deren Basis man recht bald zu einem Verständnis kommen kann, wie sich "fremde" Empfindungen wahrnehmen lassen. Aber keine einzige dieser Vermutungen ist eine einfache, klare Antwort wie "da lag ein Nagel auf dem Radweg". Letzten Endes stehen wir in der Aufstellung und spüren aus einer Rolle heraus eine Empfindung ... werden von ihr angeweht, und dann sind wir das kleine Kind, das wissen möchte, warum der Wind weht. Und es lässt seinen Drachen steigen, mit großem Vergnügen, ganz egal, welche Antwort es bekommt (außer es ist ein frühreifes Wunderkind, das nur dann an den fliegenden Drachen glaubt, wenn es eine zufriedenstellende Erklärung zum Wind erhalten hat, und die Drachen der anderen Kinder für eine Illusion hält, weil nicht sein kann, was nicht sein darf...)
@reinhard: Schon klar, dass Rationalität allein (oder überhaupt) keine Lösungen bringt. Ich muss etwas tun, um den Reifen zu flicken, Erklärungen genügen nicht. Wenn ich eine (oder diese) Lösung will. Ich halte es aber auch für legitim, keine Lösung zu wollen oder jetzt keine zu wollen - wie im Buch Kohelet: Es gibt eine Zeit, Häuser zu bauen, und es gibt eine Zeit, Häuser niederzureißen. Freilich, wenn Erklärungsmodelle als Ersatz für lösendes Tun angestrebt werden, dann wird das wenig bringen. Die Tatsache allein, dass jemand sich Gedanken über etwas macht, heißt m.E. aber noch nicht, dass er eine Lösung für ein ihn bewegendes Problem sucht und/oder vermeidet. Meine Erfahrung: Dinge, die mich erreichen, können einfach interessant sein (sie berühren etwas in mir, mein Inter-esse, und das muss nicht immer ein wunder Punkt sein, das kann auch eine erogene Zone sein). Denken kann auch Spaß machen, lustvoll sein. Eine schöne Bewegung des Geistes, vielleicht so sinnvoll wie Pirouetten auf dem glatten Eis, aber schön...
Alles Liebe,
Jake