Durchreise

Rosalie

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Köln
Durchreise

Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden. „Wir sind alle nur auf der Durchreise“, hatte er mal irgendwo gehört. Die unerbittliche Wahrheit dieses Satzes wurde ihm jetzt schmerzhaft bewusst. Er sog den Rauch tief in seine schmerzende Lunge und konnte einen kleineren Hustenanfall nicht vermeiden. Er wusste, dass dies seine letzte Zigarette sein würde und versuchte krampfhaft, sie um so mehr zu genießen. „Lungenkarzinom im fortgeschrittenen Stadium“ diagnostizierten die Ärzte vor drei Monaten. Natürlich hatte er irgendwann damit gerechnet, bei dem Zigarettenkonsum. Aber dann kam es doch zu plötzlich, zu früh.

Der Zug verschwand in der Dunkelheit und sein Leben, sein Liebe mit ihm. Wenigstens hatte er sie noch einmal gesehen. Nur das hatte er sich gewünscht. Alles andere war unwichtig. Er fühlte sich müde. Die sechs Tage mit Marla waren die schönsten seines Lebens, doch sie zehrten an seinem kranken Körper. Langsam wandte er sich zum Gehen. Seine Schritte hallten monoton auf dem kalten Asphalt. Er war in einer seltsam melancholischen Stimmung. Als sie sich zum Abschied geküsst hatten, wussten beide, dass dies das Ende ihrer unerfüllten Liebe sein würde. „Wir werden uns wiedersehen!“ hatte sie gesagt. „Ja, Marla, in der neuen Welt. Ich werde auf dich warten, und dann wird es für immer sein.“ Dann hatte er zärtlich die Träne weggewischt, die ihr über die Wange ran, und sie hatte sich zu einem Lächeln gezwungen.

Es war eine klare Nacht. Die Sterne schienen heller zu leuchten, als je zuvor. In dem kleinen italienischen Restaurant, in dem sie noch vor wenigen Stunden saßen, war es jetzt totenstill. Die Kerzen, die den ganzen Raum in warmes Licht getaucht hatten, waren erloschen, die Gäste gegangen. Auch in seinem Kopf war es ruhig geworden. Unwillkürlich dachte er an seine unbeschwerte Studienzeit. Vor 35 Jahren hatte er Marla das erste Mal gesehen. Er erinnerte sich an die Art und Weise, wie sie ihn angelacht hatte und an die schönen zehn Monate, die sie zusammen verbracht hatten. Auch die schwere Zeit, als Marla nach Brasilien zurückkehren musste, konnte er nicht vergessen. Sie hatten einander versprochen, sich wiederzusehen. Sie sahen sich wieder. Manchmal für mehrere Monate, manchmal nur für ein paar Tage. Schließlich schmiedeten sie Heiratspläne, doch Marla konnte ihre kranke Mutter nicht allein in Brasilien zurücklassen, und er konnte sich nicht entschließen, Deutschland zu verlassen.

Dann heiratete Marla. Der Schock riss ihn in eine tiefe Krise. Er glaubte für einige Zeit, daran zu zerbrechen, doch sie schrieben sich weiter Briefe, und das half ihm, den Schmerz zu verwinden. Eines Tages war Marla verschwunden. Es gab keine Briefe mehr, und ihre Liebe schien besiegelt. Verzweifelt stürzte er sich in seine Karriere und schaffte den Sprung in die Chefetage. Er heiratete. Doch die Ehe mit Doris blieb kinderlos und wurde geschieden. Zu oft hatte er von einem Leben mit Marla geträumt, doch es war zu spät dafür gewesen.

Dann, als er die Diagnose erfuhr, rastete er aus. Er kündigte seinen Job und seine Wohnung und zog ins Hotel. Er vernachlässigte sich und fing an zu trinken. Nach einiger Zeit kämpfte er nicht mehr gegen den Krebs. Er ließ ihn zu. Sein sehnlichster Wunsch, Marla noch einmal zu sehen, ging in Erfüllung, als die Leute der Detektei Manz sie endlich ausfindig machten. Sie hatten ihm erzählt, Marla hätte keine Sekunde gezögert, zu ihm zu kommen.

Gedankenversunken erreichte er sein Hotel. Auf den Stufen blieb er stehen und blickte in die Richtung, von der er gekommen war. Die kühle Nachtluft wirkte angenehm beruhigend. Er hatte endlich Frieden gefunden mit sich und seinem Leben. Es hatte doch einen Sinn gehabt. Und wenn es nur der war, für diese sechs Tage gelebt zu haben; sie waren es wert. „Sind wir nicht alle nur auf der Durchreise?“, fiel ihm wieder ein. „Was für eine wunderbare Nacht, um weiterzuziehen!“ dachte er und ging die Stufen hinauf.

Der entsetzte Schrei des Zimmermädchens gellte durch den fünften Stock des Hotel Excelsior. Hysterisch stand sie in Zimmer 331 und zitterte am ganzen Leib. Die herbeigeeilten Hotelgäste gafften aufgeregt in den offenstehenden Raum. Sie fanden Robert Martin in dem grünen Sessel am Fenster. Fast sah es aus, als ob er schliefe, doch er rührte sich nicht. Ein kleiner Artikel in der Tageszeitung informierte die übrige Bevölkerung von dem tragischen Fall. „...Der 57-jährige Manager starb an einer Überdosis Schlaftabletten. Neben dem Toten fand die Polizei ein rätselhaftes Stück Papier: „Ich warte in der neuen Welt. Wir sind alle nur auf der Durchreise...“.
 
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Nein,wo hast du dass denn her?
Dass könnte auf jeden von uns passen.
Sehr schön,direkt aus dem Leben gegriffen.:danke:
 
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