die vergangenheit holt mich ein....

liebe(r) naglegt -
danke für deine lieben worte. :umarmen:

ich weiß um die sinnhaftigkeit des aktuellen geschehens,
ich weiß, dass es etwas gibt, das ich noch immer nicht aufarbeiten konnte,
und dass ich die antworten zu suchen habe in mir sebst.

deshalb kehre ich dorthin zurück, wo es in meiner vergangenheit begonnen hat, soweit ich mich erinnern kann.

wie ein roter faden zieht es sich durch mein leben, dass ich menschen vertraute, die mich in stich gelassen haben, wenn ich in not geraten war.

lag es daran, dass ich zusehr vertraute - in andere - statt ausschließlich in mich selbst?
haben die traumata meiner kindheit dazu geführt, dass ich immer wieder menschen suche (suchte), außerhalb von mir selbst, denen ich vertrauen darf?

ich kehre zurück und schau mir das bild an, das bild eines meiner frühesten erinnerungen.

ich war kaum älter als zwei jahre.
mein vater war ein beamter der landesregierung und hatte in einem ort am land grundstückszusammenlegungen durchzuführen.
viele der bauern wollten diese von oben verordneten maßnahmen nicht.
ihre kinder haben den unmut der eltern gespürt.

meine mutter und ich sind in diesem sommer mit meinem vater mit aufs land gezogen.
wir hatten ein kleines häuschen gemietet.

ich bin mit meiner mutter zum nahegelegenen bach gegangen.
in dem bach hat sie die kotigen stiefel meines vaters gewaschen.
ich habe ihren unmut gespürt.
so hatte sie sich ihr leben nicht vorgestellt.
selbst vom land hat sie in eine großbürgerliche familie hineingeheiratet, eine familie, die sie abgelehnt hat -
und nun wieder am land, als stiefelwäscherin meines vaters.

all das habe ich natürlich erst viel später begriffen,
damals als kleines kind 'nur' ihre gefühle gespürt.

ich fragte, ob ich mit den landkindern spielen dürfte, die ich nicht weit vom bach gesehen habe.

ja, geh' nur - hat sie gesagt.

die kinder haben mich verhöhnt.
dann ist einer gegangen und mit einer teufelsmaske und ketten wiedergekommen.
ich habe angst bekommen und angefangen zu weinen.
da haben sie mich noch mehr verhöhnt und in einen kartoffelkeller gesperrt.
da würde ich, haben sie gesagt nicht wieder herauskommen.
im winter, haben sie gesagt, würden in den keller die kohlen hineingeleert.
die würden mich verschütten.

ich habe so lange geschrieen, bis sie mich endlich herausgelassen haben.

weinend und in voller panik bin zum bach gelaufen.
meine mutter war nicht mehr da.
ich bin zu unserem häuschen gelaufen und unterwegs niedergefallen.
ich bin oft niedergefallen und habe mir die kniee aufgeschlagen.

meine mutter hat mich geschimpft -
sie hat mich immer geschimpft, wenn ich niedergefallen war.
ob sie mich auch geschlagen hat weiß ich nicht.
nicht die strafe für mein niederfallen war das schlimme -
schlimm war, dass sie mich nicht getröstet hat in meiner not,
dass sie mich noch nicht mal angehört hat.

am abend, hat sie gesagt, würde mich mein vater nochmals bestrafen.

ich habe gespürt, dass er es nur halbherzig tut, nur weil sie es verlangt hat von ihm.

ich kann mich nicht erinnern, dass mich jemals ein mensch in den arm genommen hätte, wenn ich in not gewesen bin.

und doch - woher hatte ich es bloß - ich weiß es nicht mehr - habe ich meine kinder immer in den arm genommen und ihnen das liedchen gesungen -
heile heile segen
morgen gibt es regen
übermorgen schnee
dann tut's nicht mehr weh.

dass ich von meiner mutter kein verstehen bekommen könnte, habe ich in meinem noch jungen leben sehr schnell begriffen, die hilflosigkeit und hörigkeit meines vaters erst sehr viel später.
abgöttisch habe ich ihn geliebt.

noch länger, fast 30 jahre, hat es gedauert, dass ich mir eingestehen konnte, dass auch mein mann, und vater meiner kinder, mir niemals beigestanden ist, wenn ich in not gewesen bin.
immer bin ich diejenige gewesen, die für die anderen dazusein hatte.

es hat mich stark gemacht, immer stärker -
an meiner stärke ersticke ich noch.

dem psychiater, bei dem ich jahrelang in therapie gewesen bin nachdem mein sonnenscheinkind stephan an einer psychose erkrankt war, hatte ich all mein vertrauen geschenkt.
ich habe diesem menschen auch mein vertrauen nicht entzogen nachdem er mich weggeschickt und in den bittersten und härtesten jahren mit meinem psychotischen sohn alleine gelassen hat -
so wie alle anderen menschen auch.
mein vertrauen in ihn begann erst zusammenzubrechen als er auf die todesnachricht erst zwei monate später reagiert hat -
mit der erklärung, dass er früher die kraft nicht gehabt hätte dafür.

da habe ich ihn zum teufel geschickt.

allen kann ich vergeben, weil ich ihre hilflosigkeit verstehe -
aber nicht diesem menschen, der der erste war, der mich verstanden hat.

ihn muss ich jetzt endlich auch noch loslassen -
in frieden -
einzig aus eigener kraft -
im vertrauen in eine stärke, einen lebenswillen, der alle erdenkbaren höllen nicht nur überstanden hat, sondern immer mehr gestärkt hervorgegangen ist daraus.

aber manchmal, wie jetzt, erdrückt mich die aufgebürdete last, auch wenn ich weiß -
alles was nicht umbringt macht stark.

ich will aber nicht mehr stark sein -
ich will endlich einmal schwach sein dürfen, ohne gestraft zu werden dafür....
 
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es gibt auch erinnerungen die sich gut anfühlen.

in der großen küche ist es wohlig warm.
alle flammen am gasherd brennen.
das kind spielt auf dem weiß-rot gefließten fußboden.

auf zwei hockern steht die blech-kinderbadewanne.
ein großer topf steht auf dem herd, in dem das wasser brodelt.

die mutter scheint sich darauf zu freuen ihr kind zu baden.

.......​

es ist am land.
die mutter sitzt mit ihrem strickzeug am waldesrand.
da ist ein igel.
er hat sich zusammengerollt.
die mutter nimmt die thermoskanne -
sie ist grün -
und klopft mit einer stricknadel darauf.
der igel zeigt sein schnäuzlein.
das kind ist seelig.
es schließt igel für immer in sein herz.
 
eine frau geht hand in hand mit einem mann eine sommerblumenwiese hinauf.

die frau zerrt ein widerstrebendes kind hinter sich her.
der mann ist nicht der vater.
der mann ist groß und stark und trägt einen rucksack.

der mann und die frau lassen sich nieder auf der wiese und wenden sich dem kind zu.
was willst du, fragen sie das kind.
der mann nimmt ein dick belegtes brot aus seinem rucksack, es ist auch eine essiggurke drin, und reicht das brot dem kind.

das kind isst.
bald wird es durstig und hüpft weg zu einer quelle um zu trinken.
 
die großeltern leben in einer großraumwohnung in der 'bel étage'.
sie besteht aus einem großen salon, einem erkerzimmer, zwei weiteren großen zimmern, dienstbotenzimmer, vorraum, küche und badezimmer.

die großeltern bewohnen salon und zwei zimmer, die eltern und das kind ein zimmer.
die mitbenutzung des badezimmers ist nur dem sohn gestattet.
die mutter darf die küche mitbenutzen und hat sie dafür jeden tag aufzuwaschen.
auschließlich dafür darf sie warmwasser holen aus dem durchlauferhitzer im badezimmer.

das betreten der großelterlichen räume sind sowohl der mutter untersagt als auch dem kind.

der sohn hätte sich standesgemäßer verheiraten sollen.
die frau zumindest einen sohn gebären - einen stammhalter - nicht ein wertloses mädchen.

das kind sieht sich weinend und schreiend aus dem elterlichen zimmer hinauslaufen auf den flur.
es versteht nicht womit es den tobenden zorn der mutter auf sich geladen hat.
wenn es lange genug geschrieen hat, öffnet die großmutter die türe des großen salons und reicht dem kind ein stückchen schokolade aus der roten schachtel mit dem schwarz-weiß gemusterten rand -
und schickt das kind zur mutter zurück.

.......​

das kind steht weinend im flur und klammert sich an seinen zu tode geliebten braunen, weichen fellteddy, dem die sägespäne aus den pfoten quillt.

er wird dem kind entrissen.
das kind will die puppe nicht.
es will seinen teddy.
das kind will auch den harten hellbraunen teddy nicht, der später ersatzweise angeschafft wird.
er hat bald 65 jahre unangetastet und unbeschadet überstanden.
 
das kind ist bald fünf jahre alt.
noch immer schläft es im gitterbett.

die türe zum großen salon hat sich geöffnet.
die eltern sind ausgegangen.

aus dem großen salon dringt warmes licht bis an sein gitterbett.
das kind riecht den duft von feinem schinken und kümmelweckerln, die großvater auf dem weißen kachelofen aufbäckt.
es hört das klingen von feinen gläsern und die gedämpfte unterhaltung der großeltern.

das kind würde so gerne teil sein dieser stilvollen harmonie.
es traut sich nicht die großeltern auf sich aufmerksam zu machen -

bis eines abends die sehnsucht größer wird als die angst.

wir wussten nicht du wach bist, sagen die großeltern -
sie nehmen das kind an.

bald darauf ziehen die eltern mit dem kind in eine kleine, kleinbürgerliche wohnung, mit walzenmustern an den wänden, statt der eleganten tapeten in der großelterlichen wohnung -
und nehmen nur den zank mit und den hader.
 
die mutter will die großeltern nicht mehr sehen.
sie untersagt ihnen auch den umgang mit dem kind.

das kind, nun fünf jahre alt, sieht die mutter im sogenannten ersten zimmer der zweizimmerwohnung stehen.
es kann sich nicht an den wortlaut des streites mit dem vater erinnern.
es sieht zu, wie die mutter den vater ohrfeigt.
es hört die mutter sagen -
ich gehe, und das kind nehme ich mit.

die mutter und das kind sitzen in einem bus, der sie zu den eltern der mutter aufs land bringen soll.
das kind fragt die mutter - 'werden wir den vati wiedersehen?'
'ich weiß es nicht' - antwortet die mutter.

einen - vielleicht zwei tage später ist der vater da und holt frau und kind zurück.

ab da geschieht alles so, wie es mutter will.

irgend wann gestattet sie den großelten den umgang mit dem kind.
die großeltern dürfen an der haustüre klingeln.
das kind wird zu ihnen hinuntergeschickt.
sie gehen mit dem kind für ein oder zwei stunden in ein kaffehaus und bringen es wieder zurück.

.......​

streit zwischen den eltern ist an der tagesordnung.
die mutter verlangt von dem kind, dass es stellung nimmt.
wer hat recht?

das kind ist immer in der verliererposition, ob es sich nun weigert stellung zu nehmen oder partei zu ergreifen für den einen oder den anderen.
am schlimmsten ist es natürlich für den vater partei zu ergreifen.
das vergehen wird mit tagelangem schweigen der mutter bestraft.

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das kind hat zu essen was auf den tisch kommt.
was das kind am wenigsten mag kommt am häufigsten auf den tisch.
wenn es nicht isst, holt mutter den teppichklopfer hervor.
wenn es sich zu essen zwingt und das gegessene in den teller erbricht, fallen die schläge noch heftiger aus.

.........​
die mutter verlangt abbitte für jedes vegehen, indem das kind die vorgesagte entschuldigung mit gefalteten händen und auf knieen nachsagt.

irgendwann einmal ist die mutter eine fröhliche frau gewesen mit großen träumen.....
 
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Wir alle waren einmal Menschen.
Wir wollten einander gut tun.
Und dann geschah etwas.
Etwas unausprechliches.
Etwas zu Großes.
Wir waren von Irritation überflutet.
Keiner konnte uns helfen [damals].
Am Anfang tat es noch weh.
Am Anfang taten z.B. die Fesseln noch weh.
Dann immer weniger. Bis wir mit unseren Fesseln verwachsen waren [sind].

Immer schon wehrten wir uns gegen den Schmerz.
Ob wir je in der Lage sein werden, zu verstehen, dass
wenn wir nun die Fesseln lösen [wollen und sollen], die uns
so sehr einengten, dass wir es gar nicht mehr bemerkten,
nun,
diese Fesseln zu lösen schmerzt,
schmerzt manchmal unendlich,
denn es hätte doch alles Gut sein können,
mit dem selben Aufwand ...

Und den Arzt mögen wir nicht,
dabei ist es die höchste Kunst eine alte Eiterbeule
mit einem Schnitt gekonnt zu öffnen -
und wieder der Schmerz - der Arzt ist es gewohnt,
dass der Eiter spritzt und stinkt
und die Dankbarkeit erst einsetzt, wenn man
den Namen des Arztes schon wieder vergessen hat.

Nein, wenn die Türen einmal geöffnet sind,
die Tränen einmal fliessen, nein, niemand
kann wissen, wann es ein Ende hat ...
daher gehen wir nicht so gerne dort hin ...
es kann lange dauern, bis eine neue
menschlichere Harmonie und Geborgenheit
Raum nimmt in uns ...

Nein, es ist nicht einfach, von dort, wo wir herkommen:
das Herz voller bester Wünsche und Hoffungen für einander
und das Leben so voll grober und feinster Schmerzen,
voller Leid, Mühe, Qual und Schwere ...
und doch: in meinem Herzen ist ein Licht,
es ist nie erloschen, es brennt.
Wir leben nicht im Paradies, nein,
aber wir streben ins Paradies,
in ein lebendiges, hiesiges Paradies,
eine Harmonie unter den Menschen,
die das Beste, Güte, Frieden, Liebe in jedem und jeder aktiviert
und voll und ganz zum Ausdruck bringt.

So sei es.
 
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