Die Supersensiblen - eine übersehene Minderheit?

Achilleus

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Wolfgang Streitbörger


Die Supersensiblen - eine übersehene Minderheit?


Die Psychologin Elaine Aron bricht eine Lanze für „Highly Sensitive Persons" - für Menschen, die auf ihre Umwelt besonders sensible reagieren und deshalb oft zur Überreizung neigen. Zwar braucht jede Gesellschaft feinfühlige Menschen, aber die Empfindsamen sehen sich immer mehr an den Rand gedrängt.

Der Mann zuckt kurz zusammen, als der Schaffner in die Pfeife bläst. Alle anderen, die mit ihm ausgestiegen sind, scheinen den schrillen Pfiff gar nicht zu hören. Er lächelt, verharrt aber noch eine Sekunde, ehe er die Hand ausstreckt. Dann eine herzliche Begrüßung mit leichtem amerikanischen Akzent: „Ich bin Appletree", sagt der graumelierte Texaner aus Tübingen. „Brrr, was ist es hier kalt. Jetzt trinken wir erst einmal eine Tasse Kaffee, das macht mich munter nach der langen Fahrt."

Wenig später in einem Café: Ein Treffen, zu dem es kam, weil Appletree - so nennt sich der zweifach promovierte Neurochemiker und Arzt Frank Rodden seit seinen kalifornischen Flower-Power-Zeiten - ein Buch gelesen hat: The Highly Sensitive Person. Ein Buch, das sein Leben völlig verändert hat. Die Autorin, die Psychologin und Psychotherapeutin Elaine Aron aus San Francisco, hatte den Kontakt zu ihm hergestellt. Rodden ist einer der Abonnenten ihres Comfort Zone, eines Newsletters für „Highly Sensitive Persons". Für Menschen, die sich von lautem Trubel möglichst fern halten, andererseits aber auch subtile Stimmungen besonders gut wahrnehmen.

Er sei sicherlich ein „HSP" sagt Rodden. Lange Zeit hätte er das nicht gewusst. Bis er dann, vor etwa drei Jahren, das Buch las. Damals arbeitete er als Reha-Arzt in Hamburg mit Hirnverletzten. „Das war eine Situation, wo zuviel Empfindsamkeit einfach zermürbt." Auch die „Schutzkälte" der Kollegen habe er nicht mehr ertragen können. „Dieses Wechselbad zwischen empfindsam sein müssen und es dann wieder überhaupt nicht sein zu dürfen." Tränen steigen Rodden in die Augen. „Ich war 61 Jahre alt und hatte eine unbefristete Anstellung als Arzt. So etwas gibt man nicht einfach auf."

Rodden kündigte doch, besann sich ein Jahr lang auf seine Ehe, auf das Singen im Kirchenchor, aufs Ballett-Tanzen. Dann fand er eine neue Anstellung, jetzt als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Neuroradiologie an der Universität Tübingen. „Ich bin bestimmt der älteste Assistenzarzt in Deutschland," lacht Rodden. Wieder arbeitet er mit Hirnverletzten. Die meiste Zeit aber koordiniert er die Zusammenarbeit zwischen den Forschern in Tübingen und Ärzten einer Reha-Klinik. Da muss er viel zuhören, viele Feinheiten wahrnehmen. Sein Chef hat ihm gesagt, man brauche ihn - gerade wegen seiner ausgeprägten Empfindsamkeit.

Als der psychische Zusammenbruch in Hamburg drohte, wandte sich Rodden auch an eine Psychiaterin. Die konnte ihm zwar helfen. Aber: „Das Buch hat mir noch sehr viel mehr geholfen. Ich habe gesehen, es passte genau in meine Situation." Dieses Buch ist in Deutschland bisher nicht erschienen. In Amerika aber gingen seit 1996 weit mehr als 180000 Exemplare von Highly Sensitive Person über den Ladentisch. Eine Zahl, wie sie auch in den USA nur wenige Sachbücher erreichen.

Elaine Aron hat ihre Praxis für Psychotherapie in einem viktorianischen Haus an einer hügeligen Straße in San Francisco. Holzvertäfelungen geben dem Raum eine sanfte Atmosphäre, ein Kamin strahlt wohlige Wärme ab. Die Psychologin spricht mit leiser Stimme über ihre Arbeit und ihr Leben, während sie Kräutertee einschenkt.

Jedes Jahr zweimal, für jeweils zwei Monate, zieht die 55-jährige Kalifornierin ans andere Ende der USA, zur State University of New York auf Long Island, wo sie einen Lehrstuhl für empirische Psychologie hat. Gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem bekannten Psychologen Arthur Aron, arbeitet sie seit vielen Jahren vor allem an Fragestellungen der Beziehungspsychologie, „zum Beispiel über die Prozesse, die sich abspielen, wenn man sich verliebt." Früher einmal hat sie sich mit der Neurolinguistischen Programmierung befasst, ihre Ausbildung als Therapeutin absolvierte sie am C.G. Jung Institut in San Francisco. Auf das Thema „High Sensitivity" stieß Aron per Zufall. „Ich war eingeladen, in einer Bibliothek über sensible Menschen zu sprechen. Entgegen allen Erwartungen war der Raum brechend voll. Und dann kamen immer neue Anfragen, man hat mich geradezu bedrängt, über das Thema zu schreiben."

So kam es zu dem Buch, das 1996 erschienen ist. In San Francisco griffen die lokalen Medien das Thema sofort auf, ein lokaler Bestseller war geboren. Wenig später zogen auch die Verkaufszahlen in anderen Teilen der USA an. Mittlerweile ist das Buch in England auf den Markt gekommen, aber auch in Griechenland und auf Taiwan in den jeweiligen Landessprachen. Andere Auslands-Ausgaben können allerdings vorerst nicht erscheinen, da der Verlag bankrott gegangen ist.

Was aber steht in diesem Buch, dass es ohne Werbung zu Hundertausenden Absatz findet. Aron glaubt, einen elementaren Temperamentstypus zu thematisieren: „Highly Sensitive Persons sind jene 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung mit einem ererbten Temperamentsmerkmal, das sie dazu neigen lässt, unterschwellige Reize besser wahrzunehmen als andere." Dies ist aber nur die halbe Definition. Highly Sensitive Persons, so Aron, sind so prädisponiert, „weil sie alle Informationen tiefer als andere verarbeiten. Durch ihr Temperamentsmerkmal werden sie aber auch leicht durch starke Reize überstimuliert." Im Verhalten, so Aron, zeige sich dies vor allem darin, dass Highly Sensitive Persons „zunächst innehalten, um Informationen zu verarbeiten, ehe sie sich in ungewohnte Situationen begeben."

Solche Menschen, so Aron, gelten gemeinhin als schüchtern. Schüchtern aber würden sie nur, wenn sie eine sehr schwere Kindheit erleben - schwer in dem Sinne, dass sie missbraucht werden oder dass die Eltern Alkoholiker sind. Eine halbwegs stabile Kindheit dagegen ließe „HSPs" offen und ohne große Angst mit anderen Menschen umgehen, so wie jeder andere auch. Aron hat in mehreren eigenen Studien diesen Zusammenhang herausgearbeitet.
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Achilleus
 
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Solche Menschen, so Aron, gelten gemeinhin als schüchtern. Schüchtern aber würden sie nur, wenn sie eine sehr schwere Kindheit erleben - schwer in dem Sinne, dass sie missbraucht werden oder dass die Eltern Alkoholiker sind.

Vergessen zu erwähnen wäre hier wohl noch, dass sich diese Kinder auch sehr gut selbst heilen können, gerade weil sie so sensibel sind.
 
Naja, vor zwanzig Jahren hätt ich die Bücher dringend brauchen können. Inzwischen hab ich mich als Quasie-Eremitin arrangiert ;)
 
Moludeami schrieb:
Vergessen zu erwähnen wäre hier wohl noch, dass sich diese Kinder auch sehr gut selbst heilen können, gerade weil sie so sensibel sind.

hi moludeami (niedliches schnäutzchen *g*)

um irgendwelchen mist -verständnissen gleich vorzubeugen:
HSP ist keine krankheitsdiagnose.
leider werden viele aber schüchtern und oft auch krank. das in erster linie durch unkenntnis der eigenen hochsensibilität...das baby hat noch nicht lange einen namen...viele ziehen sich zurück,weil sie sich eben anders als andere empfinden und oft dieser lauten welt, sich nicht gewachsen sehen.

lg
lyla
 
Elli schrieb:
Naja, vor zwanzig Jahren hätt ich die Bücher dringend brauchen können. Inzwischen hab ich mich als Quasie-Eremitin arrangiert ;)

loollll....ich reich dir die hand...aber man/frau lernt nie aus :)

lg
lyla
 
lyla schrieb:
um irgendwelchen mist -verständnissen gleich vorzubeugen:
HSP ist keine krankheitsdiagnose.
leider werden viele aber schüchtern und oft auch krank.

ich meinte es bezogen auf:
Schüchtern aber würden sie nur, wenn sie eine sehr schwere Kindheit erleben - schwer in dem Sinne, dass sie missbraucht werden oder dass die Eltern Alkoholiker sind.

Eben die Bandbreite an psychischen Krankheiten die es so gibt und deren sie besonders anfällig sind, diese Kinder. :)
Selbst wenn sie sich nicht alleine heilen können, werden sie für die Heilung kämpfen. Und meistens finden sie einen Weg.
 
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Moludeami schrieb:
ich meinte es bezogen auf:

Eben die Bandbreite an psychischen Krankheiten die es so gibt und deren sie besonders anfällig sind, diese Kinder. :)
Selbst wenn sie sich nicht alleine heilen können, werden sie für die Heilung kämpfen. Und meistens finden sie einen Weg.

habe ich auch so verstanden:) sehe es genauso ,aber ein merkmal von HSP ist, das sie unendlich viele interpretationsmöglichkeiten haben und wer weiß wieviele HSP`s hier nun ohrenklingeln bekommen...

ich bin heut recht prophylaktisch drauf ;)

lg
lyla
 
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