Die Neue Welt

Als nächstes, so dachte ich, wird mich Daddy in eine Feuersbrunst werfen, und später vielleicht nach oben zu den höchsten Wolken, um mich mit dem Element Luft zu vereinen. Es wären die Elemente gewesen, aus denen auch unsere Körper bestehen, welche die meisten Menschen im Tod scheinbar Art loslassen. Scheinbar deshalb, weil die menschliche Bewusstseinsblase Zeit und Raum beinhaltet. In Wirklichkeit jedoch, - wenn man Energie SEHEN kann, verlässt der gesamte Mensch im Tod die menschliche Bewusstseinsblase, während die Beobachter den Toten noch immer sehen. Es ist wie bei einem Beobachter, erklärte mir Daddy einmal, der einen Astronauten in ein schwarzes Loch fliegen sieht. Das schwarze Loch hat den Astronauten längst verschlungen, obwohl ihn der Beobachter noch lange sehen kann. Daddy meinte zwar, es sei ein lausiger Vergleich, weil ja noch niemand einen Astronauten in ein schwarzes Loch fliegen sah, aber dieses Phänomen ließe sich kaum anders erklären.
So gesehen „gehen“ wir immer mit unserem Körper, auch wenn wir dies im Tod meistens nicht wahrnehmen können und vielleicht auch nicht wollen, denn unsere Körper sind, wenn sie die menschliche Bewusstseinsblase verlassen, nicht mehr materiell. Sobald sie die menschliche Bewusstseinsblase durchbrechen, bestehen sie aus reiner Energie. Wir sind in wahrer Wirklichkeit auch reine Energie, die sich immer wieder in irgendwelche Bewusstseinsblasen stürzt, um zu erfahren und zu erkennen. Manche Bewusstseinsblasen manifestieren uns als feste, flüssige oder luftige Materie. Dass es auch andere Arten der Materie gibt, - davon weiß der Mensch nichts. Damit meine ich nicht unbedingt das Element Feuer, da es durchaus auch Feuerwesen gibt, die sogar intelligenter als Menschen sind. Nur – Intelligenz sagt nicht alles aus. Daddy meinte, wenn ich darüber schreibe, soll ich unbedingt das mit der Intelligenz erwähnen, da für ihn Intuition um einiges höher steht, weil sie es ist, die uns der ewigen Quelle näher bringt, während wir uns in den jeweiligen Bewusstseinsblasen befinden.
Um mir selbst nicht zu widersprechen, - es gibt natürlich auch Menschen, wenn auch nur sehr wenige, deren Körper im Tod verschwindet, so wie es bei Daddy und Mutter der Fall war. Tod – schon allein das Wort erweckt in uns etwas Endgültiges. Aber das ist es nicht, - es ist nur ein Schritt in eine andere Dimension, - wie Daddy es immer sagte. Das, was wir den Tod nennen, ist eine richtige Reise, in der wir uns als reine Energie wirklich bewegen. Reisen auf der Erde, im menschlichen Bewusstsein, sind keine wirkliche Bewegung. Aber darauf komme ich sicher noch zurück.

Als Daddy in den nächsten Tagen nicht wieder kam, hatte ich eines Nachts einen Traum, in dem ich mich in einer Stadt am Meer befand. Ich sah von der Straße aus, wo ich am Gehsteig stand, den breiten und kilometerweiten Sandstrand vor dem türkisfarbenen Meer und dem sonnenklaren Himmel. Die Stadt erinnerte mich an San Francisco, mit den Achterbahnstraßen, wie ich sie einmal nannte, als uns Daddy bei einem seiner Konzerte einfliegen ließ. Die Häuser, links und rechts von den Straßen, waren niedrig gebaut, - höchstens drei Stockwerke hoch und alle hatte sie flache und knallig rote Dächer, während die Mauern kalkweiß waren. Die Stadt wirkte auf mich sehr steril. Man hätte von den Gehsteigen und Straßen direkt essen können, so sauber war alles. Die Menschen, falls es denn Menschen waren, schienen in ihrer gepflegten Kleidung ebenso steril zu sein. Es war, als würden sie alle zu einem Nobelball gehen, auf dem die schönste Abendgarderobe gekürt wird. Selbst die Frisuren der Frauen, manche mit einem goldenen Diadem auf dem Kopf, würden besser auf einen Ball passen als auf den Straßen. Einige der Männer trugen einen Frack und hatten hohe Hüte auf dem Kopf. Auch ich trug ein Abendkleid aus erlesenem, rotem Stoff, wie aus einem exquisiten Modejournal, mit schwarzer Nerzstola um die Schultern und natürlich dazu passende Abendsandalen. Als ich in einer Auslagenscheibe mein Spiegelbild sah, war ich angenehm überrascht. Ich war nicht etwa plötzlich wieder jung geworden, aber die alte Dame, die sich, wie gewohnt, nur mehr zu Hause aufhielt und auch dementsprechend bequem kleidete, sah sich einer Verwandlung gegenüber, die sie nie für möglich gehalten hätte. Ich ging weiter in die Stadt hinein und hatte manchmal das Gefühl, als würde ich von den an mir vorbei gehenden Passanten gar nicht wahrgenommen zu werden, bis an einer Ecke ein Mann stehen blieb und mich von oben bis unten ansah. Er war ebenso gepflegt gekleidet wie alle und sah auch ebenso gepflegt aus, aber irgendetwas war anders an ihm. Als er seinen Hut abnahm, indem er mir auf diese Art seinen Gruß darbot, quoll langes, blondes Haar auf seine Schultern herab. Ich blickte in seine hellblauen, durchdringenden Augen und fühlte plötzlich eine enge Verbundenheit mit ihm. Der Mann war eher klein gewachsen, - vielleicht sogar um zwei oder drei Zentimeter kleiner als ich. Ich kannte ihn nicht. Wie auch? Ich befand mich in einer Stadt, in der ich sicher noch nie war und wusste mit Bestimmtheit nicht einmal, ob es diese Stadt überhaupt auf der Erde gibt. Aber diese Verbundenheit! Am liebsten hätte ich mich in die Arme dieses Mannes geworfen und wäre mit ihm zum Strand gelaufen. Aber ich nahm nur seine Hand, die er mir entgegenstreckte, nachdem er den Hut wieder aufgesetzt hatte und ging langsam mit ihm weiter. Seine Hand war weich und warm und der sanfte Druck erinnerte mich an etwas, was ich nicht bestimmen konnte. Es war, als wäre es nicht das erste Mal, dass ich seine Hand halte. Es war, als hätten wir beide bereits ein ganzes Leben zusammen verbracht und würden uns so gut kennen, dass wir gar nicht miteinander reden müssten. Nur ein Blick, oder eine Geste genügte, um uns zu verständigen. „Wir sind zusammen und nichts kann uns trennen“, sagte mir sein nächster Blick und sein zögerndes Lächeln, als wir in eine Seitengasse einbogen und er mich von dort in einen kleinen Park zu einer Bank führte, wo wir uns setzten. Er legte seinen Arm um mich und ich meinen Kopf an seine Schulter. Zuerst beobachteten wir einige Leute, die an uns vorbei gingen und ich abermals das Gefühl hatte, als würden sie nicht nur mich, sondern auch den Mann an meiner Seite, nicht wahrnehmen. Etwas später schliefen wir beide ein und träumten zusammen. Ein Traum im Traum! In diesem Traum erlebte ich mit ihm ein ganzes Leben. Alles war so vertraut und harmonisch. Ich wollte diesen Mann nie wieder verlieren. Die Liebe, die uns beide verband, war mir so wichtig, dass ich nicht loslassen konnte. Ich wollte nicht loslassen. Dieses Leben dürfte nie enden. Es muss einfach immer so weitergehen. Nichts und niemand darf uns jemals trennen.
Für diesen Moment vergaß ich, dass es ohnehin keine Trennung gibt. Menschen geben so viel für ihre Liebe, diese, wie oft gesagt wird, Himmelsmacht. Auch wenn sie nicht immer bedingungslos ist, welcher Mensch träumt nicht von einer harmonischen Zweisamkeit, von Geborgenheit und Vertrautheit. Mit einem Partner, der einen durch und durch kennt, zusammen alt werden, ist doch das Schönste, was einem Menschen widerfahren kann. Was haben wir nicht alles zusammen erlebt und durchgestanden! Alle Höhen und Tiefen haben wir überwunden und sind dadurch nur noch enger zusammen gewachsen. Und dann kommt der Moment, wo der geliebte Partner für immer geht. Ein Schmerz, der einem nicht nur einen Teil, nein, - der einem das ganze Herz aus dem Leib reißt. Man möchte selbst nicht mehr sein, - nicht mehr ohne ihn. Dann die Fragen: „Werden wir uns wieder sehen?“ „Wo bist du jetzt?“ und keine Antworten, außer die gemeinsamen Erinnerungen, das gemeinsame Leben und nun diese quälende Leere und Einsamkeit. Es gibt keinen Trost, wenn der geliebte und lebenslange Partner für immer geht, wenn nicht das Wissen da ist, dass es gar keine Trennung gibt. Nur – wie das alles erklären, wenn es ja doch kein Wissen, sondern höchstens ein Glaube ist? Der Partner stirbt, wird begraben oder verbrannt. Er ist nicht mehr greifbar nah. Es gibt keine Schulter mehr zum Anlehnen, keine aufbauenden Worte, wenn man mal einen seelischen Tiefpunkt hat. Es gibt nur mehr Stille und Einsamkeit. Und doch reden wir mit dem Partner, der nicht mehr DA ist, - erzählen ihm alles und weinen an seinem Grab oder an einem Ort, an dem man gerne zusammen war. Er hat noch immer Anteil an unserem Leben. Auf eine gewisse Art ist er doch DA und langsam gewöhnen wir uns an diese subtile Zweisamkeit.
Ich kann nicht sagen, ob ich hier mehr litt, als damals, als mein Mann gestorben war, aber ich kann sagen, dass mir der Schmerz hier noch bewusster war, - dass ich den Schmerz tiefer in mich hinein ließ. Vielleicht war es deshalb, weil Daddy nicht da war, - weil es ihn in diesem anderen Leben gar nicht gab. Durch Daddy erfuhr ich, dass dieses Leben nicht alles ist. Von Daddy bekamen wir alle Kraft, um leichter loslassen zu können und um so das Wahre zu erfassen. Aber Daddy war nicht da und das Wissen fehlte mir. Es fehlte mir sogar der Glaube, da ich zu sehr an allem zweifelte. Es war, als würde ich mich selbst beobachten, als ich gebrochen und weinend da lag und nur mehr sterben wollte, weil meine Liebe für immer gegangen war. Und die Beobachterin versuchte vergeblich die Beobachtete an den Schultern aufzurichten und ihr zu sagen, dass wir nie etwas verlieren werden, auch wenn es jetzt noch so scheint. Die Beobachtete starb kurz nach ihrem Mann an gebrochenem Herzen. Vielleicht musste es so sein. Ja, durchaus, denn nur so erkannte sie, dass es immer nur Einheit und niemals Trennung gibt.
Als ich aufwachte, war Daddy an meinem Bett. „Persönlichkeit, auch wenn sie es ist, die uns Liebe erfahren lässt, trennt“, sagte er und wischte sanft meine Tränen ab. „Erst im Loslassen erkennen wir das und erfahren die wirkliche Liebe, die uns alle verbindet.“
 
Werbung:
In den nächsten Tagen erfasste mich eine tiefe Depression. Ich fragte mich wirklich nach dem Sinn eines menschlichen Lebens, das oft so mühsam erscheint und fast immer in Krankheit und viel Leid endet. Für manche mag wohl die Kindheit der schönste Lebensabschnitt sein und vielleicht auch noch die Jugend, wo man meint, das Leben liege noch vor einem. Alles erscheint neu und aufregend und man ist voller Tatendrang, ohne nach dem Morgen zu fragen. Dann die Entscheidung, welchen Beruf man ergreifen und womit das Geld verdient werden soll. Zwischendurch Liebeskummer und dann doch die große Liebe finden, mit der eine Familie gegründet wird. Langsam beginnen die Sorgen und somit auch das Denken an das Morgen. Was wird aus den Kindern? Werden sie es einmal gut haben? Und was, wenn eines der Kinder krank wird, wenn es schon krank geboren wird und sein Leben lang Hilfe braucht? Was, wenn man arbeitslos wird und das Geld ausgeht? Was ist mit Menschen, die heimatlos sind, unter der Brücke schlafen und um tägliche Nahrung fürchten müssen? Wir müssen gar nicht so weit in andere Länder schauen, wo Kinder vor Hunger sterben. Auch in unseren Breiten gab und gibt es Armut und viel Not. Gerade zu der Zeit, als fast alles schon in Schutt und Asche lag und es nur mehr eine Frage der Zeit war, wie lange die Menschheit noch überleben wird.
Als ich noch jung war, konnte ich nie viel mit den so genannten menschlichen Bedürfnissen anfangen. Schon damals fragte ich mich oft, was das mit der Politik und Wirtschaft alles soll. Wieso machen sich die Menschen das Leben so schwer, nur um für ein paar Jahre Profit zu scheffeln? Ich habe wirklich mit bekommen, dass manch arme Menschen oft glücklicher und vor allem zufriedener sind, als die so genannten Reichen, die ständig um ihren Reichtum fürchten mussten und doch nie genug davon hatten.
Was BRAUCHT der Mensch wirklich? Diese Frage bohrte sich in den nächsten Tagen in mein Herz und ich fand keine Antwort, bis Daddy wieder zu mir kam und wie aus dem Nichts in meinem Atelier stand.
„Die Unwissenheit ist ungerecht“, empfing ich ihn, ohne mich, was ich eigentlich wollte, Trost suchend in seine Arme zu stürzen.
„Hat dich dein Traum so traurig gemacht?“ fragte Daddy.
„Das menschliche Leben könnte so schön sein, wenn die Menschen wüssten, wer sie wirklich sind und dass es nichts gibt, was sie jemals verlieren können, weil doch immer alles DA ist.“
„Das Leben ist schön, Manola. Es kommt nur auf den Blickwinkel und auch darauf an, die Momente zu genießen.“
„Dann sag mir, welcher Mensch heute noch Momente genießen kann? Die Erde ist verseucht. Überall gibt es Bürgerkriege. Niemand wagt sich mehr, wenn es dunkel wird, hinaus. Es ist sogar tagsüber lebensgefährlich, die Häuser zu verlassen, weil es überall Rebellen gibt, die für ein Unterhemd töten. Die meisten Menschen haben gar keine Häuser. Kinder verhungern und sterben, weil es keine Ärzte mehr gibt, die sie versorgen könnten. Das menschliche Leben ist zur Hölle geworden und ich kann da nur sagen, dass die Menschen selbst daran Schuld haben.“
„Was hätten sie besser machen können?“ fragte Daddy. „Sie haben diesen Weg eingeschlagen und sind ihn zu Ende gegangen. Das Resultat lag schon viele, viele Jahre klar auf der Hand. Die meisten Menschen wussten, was passieren wird. Und meinst du, nur wenn sie wüssten, wer sie wirklich sind, könnten sie dieses Leben leichter ertragen? Oh nein, Manola – sie würden selbst Hand an sich legen, sobald ihnen etwas nicht in den Kram passt. Es wäre ja so leicht, denn als nächstes würden sie sich als Energie vielleicht in eine bessere Welt wünschen. Nur, DAS hätte dann keinen Sinn, denn der Sinn besteht daraus zu lernen und das können sie nur in Unwissenheit und vor allem in Zeiten, wo es ihnen miserabel geht. Hier könnten die Menschen ansetzen und etwas ändern. Und glaub mir, sie werden etwas ändern, wenn sie wirklich bereit dazu sind.“
Ich erinnerte mich plötzlich wieder an mein Gefühl, nachdem ich auf der Erde aufgeschlagen war, wie ich damals das menschliche Leben empfunden habe. Da gab es keine Wut, keine Verzweiflung, auch wenn ich das Leid gesehen und am eigenen Leib empfunden habe. Leid und Glück können so nah beieinander sein, als wären beide eins. Meine Gedanken sprangen weiter und ich dachte daran, als Cora und ich damals über Daddys schwere Kindheit und Jugend erfahren haben und wir ihn fragten, wie er das nur ausgehalten hat. Es war seine Verrücktheit, die damals aus ihm sprach und er uns sagte: „Es besteht kein wirklicher Unterschied, ob dich jemand an der Wange streichelt oder dir auf die Wange schlägt. Es liegt nur an der Härte und der Geschwindigkeit und kommt vor allem darauf an, wie du es empfindest.“
Plötzlich musste ich lachen, - lachen wie eine Verrückte. Und ich wusste, auch ich klammerte mich noch ans Leben, weil das genauso sein MUSSTE, denn wir sind doch die Schöpfer dieses Lebens, selbst wenn es uns oft leidvoll und auch grausam erscheint. Als Schöpfer dieses Lebens dürfen wir das Leben nicht verachten. Würden wir das tun, würden wir uns selbst verachten. Die wahre Heilung, sagte Daddy sehr oft zu uns, beginnt mit der Selbstliebe.
 
Zurück
Oben