Hallo
Das Problem mit dem Tao te King scheint mir zu sein, daß er, wie ich inzwischen meine, gar nicht übersetzbar ist. Bzw. daß wir uns bei keiner Übersetzung darauf verlassen können, ob sie auch nur annäherungsweise den gemeinten Sinn von Laotse trifft. Habe hier 6 verschiedene Übersetzungen auf Festplatte, eine anders als die andere, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Bei deiner Übersetzung fällt mir auf, daß sie- auf die jeweiligen Kapitel bezogen - sehr viel länger ist als die mir vorliegenden. Kann das sein, daß du frei dazugedichtet hast? Mal zum Vergleich das 1.Kapitel.
Deine Fassung:
(1)
Die Empfindung,
die man empfindet,
ist nicht ewig.
Die Wahrnehmung,
die man wahrnimmt,
ist nicht von Dauer.
Der Name,
den man nennen kann,
ist nicht der ewige Name.
Erst JESEITS des Wahrnehmbaren,
Empfindbahren,
Nennbahren
liegt der Ursprung der Welt.
Denn vor dem Anbeginn der Welt,
gibt es NICHTS,
das empfunden werden könnte.
Denn vor dem Anbeginn der Welt,
gibt es NICHTS,
das wahrgenommen werden könnte.
Denn vor dem Anbeginn der Welt,
gibt es NICHTS,
das genannt werden kann.
Jenseits des Anbeginns
liegt die Ursache der Schöpfung.
Jenseits aller Erscheinungsformen
liegt der Ursprung alles Erschaffenem.
Da alle Kräfte DORT Ihren Anfang nehmen,
führt der Weg in den EINEN Ursprung
zum Schauen der ursprünglichen Kräfte.
Mit dem (eigenen) Eintreten in den Ursprung,
wird das Wesen von Raum und Zeit geschaut.
Beides hat EINE Ursache,
doch verschiedene Ausrichtungen.
Die EINHEIT VON BEIDEM
ist das große Geheimnis.
Dieses Geheimnis ist nicht ergründbar,
da es ohne Ursache ist.
Wäre das Geheimnis ergründbar,
offenbarte es sich auf diese Weise
nur als Urgrund eines noch größeren Geheimnisses.
Die letzte Ursache kennt keinen Verursacher,
denn sie ist selbst die Pforte der Offenbarwerdung aller Kräfte.
Richard Wilhelm (1911)
Der Sinn, der sich aussprechen läßt,
ist nicht des ewige Sinn.
Der Name, der sich nennen läßt,
ist nicht der ewige Name.
"Nichtsein" nenne ich den Anfang von Himmel und Erde,
"Sein" nenne ich die Mutter der Einzelwesen.
Darum führt die Richtung auf das Nichtsein
zum Schauen des wunderbaren Wesens,
die Richtung auf das Sein
zum Schauen der räumlichen Begrenztheiten.
Beides ist eins dem Ursprung nach
und nur verschieden durch den Namen.
In seiner Einheit heißt es das Geheimnis.
Des Geheimnisses noch tieferes Geheimnis
ist das Tor, durch das alle Wunder hervortreten.
Rudolf Backofen 1949
Das Unergründliche, das man ergründen kann,
ist nicht das unergründbar Letzte.
Der Begriff, durch den man begreifen kann,
zeugt nicht vom Unbegreiflichen.
Im Unbegreiflichen liegt der Welt Beginn,
nennbar wird nur, was Gestalt gewinnt.
Daher gilt:
Das Wesen erschaut,
wer wunschlos zum Herzen der Dinge strebt;
Gestalten nur sieht, wer begehrlich am Sinnlichen klebt.
Wesen und Gestalt sind nur begrifflich gespalten,
geheimnisvoll bleibt ihrer Einheit Grund.
Diese Einheit ist das Geheimnis der Geheimnisse,
zu allem Unergründlichen erst das Tor.
Matthias Claus (2002)
Was wir vom TAO sagen können, sind immer nur Worte;
mit welchen Begriffen wir es auch zu beschreiben versuchen,
all das bleibt letztendlich Äußerlichkeit.
Die Grundlage unseres Menschseins ist nicht mit unseren Worten formulierbar,
allem eine Bezeichnung zu geben, ist nur der Versuch der Menschen, mit der Welt umzugehen.
Deshalb sage ich:
Das passive Meditieren ermöglicht ein Eindringen in jenes Geheimnis,
während das rationale Bedenken nur zu theoretischen Ansichten führt.
Obwohl sich beides um das gleiche dreht, liegt hierin doch der große Unterschied.
Dies ist die allem zugrundeliegende Wahrheit, im Begreifen dieser Wahrheit liegt der Schlüssel zur letzten Erkenntnis.
Bodo Kirchner (2000)
Der Weg, der beschrieben werden kann
ist nicht der ewige Weg
Der Name, der genannt werden kann
ist nicht der ewige Name
Das Namenlose ist der Ursprung des Himmels und der Erde
Das Namhafte ist die Mutter aller Dinge
Darum:
Wer ohne Begehren ist
sieht das Innere
wer voll Begehren ist
sieht nur das Äußere
Der Ursprung ist der gleiche
die Namen sind verschieden
Ihre Einheit ist dunkel
dunkel im Dunkel
- das Tor zum Geheimnis
Günter Debon (1961)
Könnten wir weisen den Weg,
Es wäre kein ewiger Weg.
Könnten wir nennen den Namen,
Es wäre kein ewiger Name.
Was ohne Namen,
Ist Anfang von Himmel und Erde;
Was Namen hat,
Ist Mutter den zehntausend Wesen.
Wahrlich:
Wer ewig ohne Begehren,
Wird das Geheimste schaun;
Wer ewig hat Begehren,
Erblickt nur seinen Saum.
Diese beiden sind eins und gleich.
Hervorgetreten, sind ihre Namen verschieden.
Ihre Vereinigung nennen wir mythisch.
Mythisch und abermals mythisch:
Die Pforte zu jedwedem Geheimnis.
R.L.Wing 1987
Das sagbare Tao
Ist nicht das Tao des Absoluten.
Der nennbare Name
Ist nicht der Name des Absoluten.
Das Namenlose rief Himmel und Erde ins Leben.
Das Nennbare ist die Mutter aller Dinge.
Demnach enthüllt sich dem erwartungslosen Blick
Stets der Beweg-Grund;
Dem erwartungsvollen Blick aber enthüllt sich
Stets die Begrenzung.
Der Ursprung der beiden ist der gleiche.
Nur dem Namen nach sind sie verschieden.
Zusammen nennt man sie tief,
Tief und geheimnisvoll.
Das Tor zum kollektiven Beweg-Grund.
Das sind enorme Deutungsunterschiede. Vor allem achte man darauf, wie verschieden der Schlüsselbegriff "Tao" übersetzt wird. Wilhelm übersetzt ihn mit "Sinn", Backofen mit "Das Unergründliche", Kirchner und Debon mit "Der Weg". Die beste Lösung wählen nach meinem Ermessen Claus und Wing: Sie lassen ihn unübersetzt.
Du wiederum übersetzt mit "Die Empfindung", was ich, nur meine Meinung, für die problematischste aller Übersetzungen halte, denn damit wird *Tao*, der Urgrund allen Seins, zu einer subjektiven Kategorie, also zu einem Bewußtseinsphänomen, was zwar auch richtig ist, aber nur die Hälfte der Wahrheit darstellt. Denn für Laotse stellt "Tao" etwas Objektives dar, das außerhalb des menschlichen Bewußtseins objektiv existiert, eine kosmische Kraft, die alles Seiende intelligent durchdringt.
Nunja, wie gesagt, die diversen Übersetzungen sind auf sehr wüste und fast unverdauliche Weise verschieden.