Wenn ich mir ein Kruzifix anschaue dann sehe ich einen leidenden, sterbenden Menschen.
Es ist jedoch nichts edles, spirituelles, gutes, schönes am leiden und der Selbstopferung.
Ich denke, das ist eine Frage der individuellen Interpretation, ohne das ich persönlich Dir da wiedersprechen würde. Wobei... ich kenne es auch wirklich anders. Also, das man in irgendwie einen Sinn zu sehen glaubt und Leiden (auch eigenes) idealisiert. Ich glaube, dass man das zu gewissen Zeiten vielleicht muss, wobei es immer um eigenes Leiden geht. Das Idealisieren des Leidens in Religionen ist m.A.n. lediglich ein Ausdruck des eigenen Leidens. Sonst würde man dem Kruzifix etwa eher gleichgültig gegenüberstehen, es gar nicht bewerten. Abgesehen davon ist das Leiden anderer oft Mittel (teilweise sogar Zweck), also gewollt. Auch das ist Ausdruck des eigenen Leidens, weil es Leiden in einem selbst ist, das Leiden außen sehen will, aber ich glaube das es wirklich profan ist, v.a. in Religionen. Leiden wurde und wird als Mittel zum Zweck benutzt, Angst zu schüren (die Leiden ist) um gewisse Ziele zu erreichen. Der Wunsch danach verrät wiederum eigenes Leiden. Daher denke ich auch, das dieser Satz:
"Und warum liegt es am Interesse der Religion diese Neurose fortzusetzen? Ich bin mir sicher, die hohen Tiere innerhalb der Kirche wissen genau Bescheid." nicht stimmen muss. Diese Menschen sind wie alle anderen. Sie leiden auch. Und meine simple Überzeugung ist: Wer leidet weiß eben nicht genau Bescheid.
Warum existiert in unserer Kultur diese Idealisierung des leidens?
Wie oben bereits angedeutet glaube ich:
Erstens will das eigene Leiden eines Menschen Leid sehen. Zweitens will man darin einen Sinn sehen. Sinnlosigkeit ist eine Form des Leidens und unerträglich. Ein "Opfer" (und jeder Leidende empfindet sich als Opfer, selbst wenn er rational nicht davon überzeugt sein sollte eines zu sein... bzw. das sein "eigenes" Opfer zu sein) will...muss...Leid erzeugen. Das sieht man schon an sich selbst. Wenn man leidet sieht man oft einen Sinn in Strategien die vornehmlich Leid beenden sollen, es aber eben ganz konkret immer wieder neu erzeugen.
Ist das nicht eine gesellschaftliche Neurose?
Es ist eine persönliche Neurose. Das es viele (fast alle wahrscheinlich) betrifft, heißt nicht das es verbindet. Denn Leiden tut genau das Gegenteil. Es trennt. Es gibt keine krassere Form des Egoismus als das Leiden, da Leiden in hohem Maße selbstbezogen ist und Trennung als Wirkung erzeugt, die wiederum Leiden ist. Eine Strategie die daher auch nie funktioniert ist das Suchen im Äußeren, das Verlangen nach Rettung sozusagen.
Woher kommt sie, und wie spiegelt sie sich in unserer heutigen Gesellschaft wieder?
Es ist der Ausdruck von Trennung. Ursache und Wirkung sind da eins, bzw. wird die Wirkung wieder zur Ursache. Nimm als Beispiel einen Streit. Die Trennung besteht darin, das immer nur mit Abwehr reagiert wird und Abwehr entspricht hier gleichzeitig einem Angriff. Das ist ein bisschen wie Tischtennis spielen. Ob da Argumente fallen die aus der jeweiligen Perspektive als wahr empfunden werden oder ob es Beleidigungen sind, spielt solange keine Rolle, wie vermeintliche bewertende Wahrheiten eine Rolle spielen. Erst wenn die Perspektive der anderen Person einbezogen wird, unter der Prämisse das diese Perspektive aus deren Sicht genauso verständlich und sogar angemessen ist, wie die eigene, auch ohne das man sie versteht, kommt es dazu das die Bälle sanfter gespielt werden und ihn irgendwann jemand fangen kann, was das Leiden für beide beendet. Das ist dasselbe in Religionskriegen. Und es ist m.A.n. nicht wirklich kollektiv. Es ist ein Zusammenschluß von Leidenden, Getrennten, die ihr Leid genau damit zu beenden versuchen indem sie Gleichgesinnte suchen, finden und einen Gegner definieren der sie zusammenschweißt. Der Gegner (die andere Religion z.B.) ist notwendig um ein Gefühl des "Nicht-Getrenntseins" zu erzeugen. Existierte dieser Gegner nicht, würde die Gemeinschaft auseinanderfallen und die Trennung untereinander klar zu Tage treten. Das Kollektiv ist Ausdruck des individuellen Leidens. Man kann sogar sagen, dass das Kollektiv ein Ausdruck der Trennung selbst ist, auch wenn das die Vorzeichen umzukehren scheint.
Und warum liegt es am Interesse der Religion diese Neurose fortzusetzen? Ich bin mir sicher, die hohen Tiere innerhalb der Kirche wissen genau Bescheid.
Wie gesagt, glaube ich das nicht, was nicht heißt das nicht Strategie dahintersteht. Manipulation durch Angst als Mittel zum Zweck. Die Frage ist, ob es funktioniert. Tut es m.A.n. nicht, weil es das persönliche Leiden nicht beendet. Insofern würde ich sagen: Wenn eine Strategie nicht funktioniert, weiß derjenige der sie wählt eben nicht Bescheid. Und er kennt auch nicht seine tiefere Motivation. Wenn Du jemanden fragst, warum er jemandem anderen Schmerzen zufügen will, dann ist die ehrlichste Antwort die, das es gerechtfertigt erscheint. Wenn Du nachhakst wirst Du sehen, dass da kein "Mensch" spricht, sondern lediglich das Leiden eines Menschen, in Form von "Richtig-Falsch-Überzeugung" (Überzeugungen sind Ausdruck von Leiden, wie auch Leid-erzeugend) das eine Strategie wählt die es selbst erhalten wird.
Was ist der Sinn davon, jegliches Leid zu übernehmen in einem Akt der Selbstopferung? Es ist doch nicht möglich das Leid eines anderen zu heilen in dem man selbst leidet!
Selbstopferung ist auch "nur" eine Strategie um eigenes Leiden zu lindern oder zu lösen. Man übernimmt kein Leiden, man erzeugt es durch Reaktion darauf. Mitleid ist Selbstmitleid. Erst wenn Du am Leiden eines Menschen "vorbei" zum Wesen eines Menschen schauen kannst, kannst Du helfen. Vorher verliert sich alles in Aktivismus der den Anschein erweckt dem anderen helfen zu wollen, was nicht falsch ist, dieser Wille ist aufrichtig. Aber die Motivation ist in den Momenten wo sozusagen "Akzente" gesetzt werden, wo Handlungen erzeugt werden, das eigene Leiden. Und man kann kein Leiden auf diese Art beenden. Die Unterscheidung ist nicht leicht zu erkennen, aber sie existiert. Kann man sehen, wenn man sich selbst beobachtet wie man reagiert wenn ein Mensch der einem nahe steht leidet. Wie reagiert man? Aus einer Art Ruhe die Gewissheit schafft heraus, oder eher einer verzweifelten Hoffnung, wo der Aktivismus eher die Hoffnungslosigkeit und das eigene Leiden zu lindern versucht, indem man die Illusion erzeugt handeln zu können? Und wie oft führte letzteres bei einem selbst oder anderen wirklich zu Erfolg?
Meiner Meinung nach, sollte man Leiden immer individuell sehen. Es ist sowieso getrennt und man kann das nur lösen, wenn man das erkennt. Zu sehen das sich-abstoßende-Pole nebeneinander existieren können...müssen, und es sogar deren Funktion ist sich abzustoßen, Reibung und Bewegung zu erzeugen, ist das verbindende Paradox, weil nicht die beiden Pole das Wesentliche sind, sondern das was sie wahrnimmt. Das Verbindende Element ist "hinter" dem Leiden. Von da aus "muss" auf die sich-abstoßenden-Pole geschaut werden, mit dem Bewusstsein das sie sozusagen genau das tun, was ihre Funktion ist. Wenn man fähig ist, aus dieser Art Bewusstsein die Dinge zu sehen, kann man auch erkennen, das Leid aus einer Perspektive gesehen grausam ist, sinnlos erscheint, aus einer anderen wiederum sinnvoll. Nicht Partei zu ergreifen macht dieses Spiel wiederum sinnvoll, ohne das dahinter ein Zweck gesehen werden muss. Die Bewegung selbst, die auf diese Art erzeugt wird, ist ihr eigener Sinn, um es mal "philosophisch" zu sagen. Richtig und Falsch, Wahr und unwahr, sind sozusagen "unwahre Konzepte", deren Zweck es ist, die Bewegung zu erhalten. Will man Leid beenden muss man das erkennen. Und kollektiv kann man gar kein Leid beenden. Nur bei sich selbst und jeweils genau dem, was....wen... man gegenüber hat.
VG,
C.