Die kleine Prinzessin...

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eine Metapher (gekürzt, nach Thurber 1973):

Die kleine Prinzessin Leonore war krank.

"Hast du einen Wunsch?" fragte der König. "Du sollst alles haben, was dein Herz begehrt."

"Ich wünsche mir den Mond", sagte die Prinzessin, "Wenn ich ihn bekomme, werde ich auch wieder gesund."

Da der König eine Menge kluger Männer um sich hatte, die ihm alles beschafften, was immer er verlangte, versprach er seiner Tochter den Mond.

Aber anscheinend hatte er zuviel versprochen. Denn sowohl der Lordkanzler, als auch der königliche Zauberer und der königliche Mathematiker konnten ihm nicht helfen. Schließlich rief er nach dem Hofnarren, um sich von ihm aufmuntern zu lassen.

"Mir kann niemand helfen", sagte der König trübsinnig. "Meine kleine Tochter wünscht sich den Mond; bevor sie ihn nicht hat, wird sie nicht wieder gesund, aber niemand kann den Mond herunterholen. Sobald ich jeman*den frage, wird der Mond jedesmal größer und entfernt sich immer weiter von hier. Niemand kann mir helfen. Spiel mir etwas auf deiner Laute vor, aber etwas sehr Trauriges."

"Wie groß soll der Mond sein und wie weit entfernt?" fragte der Hofnarr.

"Der Lordkanzler sagt, er sei 35000 Meilen weit weg und größer als das Zimmer der Prinzessin", antwortete der König. "Der königliche Zauberer hingegen meint, er sei 150000 Meilen entfernt und doppelt so groß wie der Palast. Und der königliche Mathematiker behauptet, er sei 3000000 Meilen entfernt und halb so groß wie das Königreich."

"Das sind alles sehr kluge Männer; also muß es stimmen, was sie sagen," meinte der Hofnarr. "Und wenn sie recht haben, dann ist der Mond gerade so groß und so weit entfernt, wie es sich jeder einzelne vorstellt. Weiß man denn aber, für wie groß die Prinzessin den Mond hält? Das allein wäre wichtig."

Und tatsächlich, die Prinzessin weiß genau, wie der Mond beschaffen ist. "Er ist kleiner als der Nagel meines Daumens, denn wenn ich den gegen den Himmel halte, verdeckt er den Mond."

"Und wie weit ist er von hier entfernt?" wollte der Hofnarr noch wissen.

"Er ist nicht ganz so hoch wie der Baum vor meinem Fenster, denn in manchen Nächten bleibt er in den Zwei*gen hängen," antwortete die Prinzessin.

"Dann ist es ganz einfach, den Mond zu fangen," sagte der Hofnarr. "Ich klettere auf den Baum, wenn der Mond in den Zweigen steckt, und hole ihn für dich herunter."

Dann aber fiel ihm noch etwas ein. "Woraus ist der Mond gemacht?" fragte er.

"Aus Gold natürlich, du Dummkopf", antwortete sie.

Nun weiß der Hofnarr genug. Er begiebt sich zum königlichen Goldschmied, und läßt ihn für die Prinzessin einen Anhänger machen aus einem runden Goldplättchen, "um eine Winzigkeit kleiner als der Daumennagel der Prinzessin."

Als der Narr ihr den kleinen goldenen Mond bringt, ist die Prinzessin überglücklich. Am nächsten Tag ist sie wieder gesund und kann wieder im königlichen Garten spielen. Aber der König hat immer noch Sorgen: Was, wenn seine Tochter dahinterkommen würde, daß es nicht der richtige Mond ist, den sie da am Halskettchen trug? Und das würde ja unweigerlich geschehen, wenn der Mond des Abends wieder am Himmel leuchtete!

Seine Ratgeber suchen wieder einmal die Lösung in äußeren Vorkehrungen: "Wir setzen der Prinzessin eine dunkle Brille auf, dann wird sie den Mond am Himmel nicht erkennen", sagte der Lordkanzler. Der königliche Zauberer schlägt vor, über dem Palast ein Zelt aus schwarzem Samt aufzuspannen. Der Mathematiker schließlich empfiehlt allabendliches Feuerwerk, "dahinter wird der Mond verblassen". Aber all diese Vor*schläge hatten nicht zu übersehende Nachteile, und so gab sich der König wieder seinem Kummer hin.

"Spiel etwas auf deiner Laute", sagte er zum Hofnarren, "aber etwas Trauriges, denn wenn die Prinzessin den Mond erblickt, wird sie wieder krank ... Der Mond scheint jetzt genau in das Zimmer der Prinzessin. Wer wird ihr erklären können, warum der Mond am Himmel leuchtet, wenn sie doch glaubt, daß er an ihrem Hals*kettchen baumelt?"

Der Hofnarr unterbrach das Spiel. "Wer konnte sagen, wie man den Mond holt, als Eure klugen Männer er*klärten, er sei zu groß und viel zu weit entfernt? Es war die Prinzessin Leonore. Also ist die Prinzessin klüger als die gelehrten Männer und weiß mehr vom Mond als sie alle zusammen. Ich werde sie fragen!"

Und wieder weiß die Prinzessin tatsächlich die Antwort: "Das ist doch ganz einfach ... wenn der Hofgärtner im königlichen Garten die Blumen schneidet, wachsen andere nach. Und mit dem Mond ist es auch so."

"Daß ich darauf nicht von allein gekommen bin!" sagte der Hofnarr. "Schließlich ist es mit dem Tageslicht dasselbe."

"Ich glaube, daß es mit allem so ist", sagte die Prinzessin friedlich.

Ihre Stimme wurde immer leiser, und der Hofnarr merkte, daß sie eingeschlafen war ...
 
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