Hilfe, ich kann den Otto so gut verstehen!
Also geht er zu seinem Guru, seinem Quasi-Erleuchteten. Dieser grinst wie immer und sagt ihm, er solle sich nur weiter brav an seine spirituelle Praxis halten. Doch jetzt reagiert Otto ungewohnt: Er kann den Verdacht nicht mehr ablegen. Da nagt in ihm etwas, es nagt und nagt, und lässt ihn nicht mehr los. Was hat ihm all die spirituelle Praxis gebracht? Zum erstenmal seit 25 Jahren entscheidet er sich, für eine Woche mit der spirituellen Praxis auszusetzen (entgegen dem Willen des Gurus). Zum erstenmal in 25 Jahren sieht er sich das Leben und Wirken des Gurus genau an, sieht er mal die andern spirituellen Sucher etwas genauer an.
Was er sieht, erschreckt ihn. Alle üben sich im dauerlächeln, alle reden von Bewusstheit, von allumfassender Liebe, doch wenn sie sich auch nur schon mal das Schienbein irgendwo anstossen, kommen wüste Flüche über ihre Lippen. Wie echt ist all diese gegen aussen zur Schau getragene Gelassenheit? Wie echt ist Otto's Gelassenheit selbst?
Jetzt setzt sich ein Prozess in Gang: Zweifel. Otto hört nicht mehr auf damit. Er beginnt zu zweifeln, überall wo er hinsieht entdeckt er nichts als Lügen. Das schlimmste ist, die Lügen stammen nicht nur von anderen, nein, Otto hat sich selbst dauernd belügt. Er durchforstet nach und nach die Fundamente seines Denkens, er kann nicht mehr aufhören damit. In ihm entsteht eine ungeheure Wut, Wut auf den Quasi-Erleuchteten, Wut gegen sich selbst, Wut gegen die andern spirituellen Sucher, Wut gegen all die ihm in den letzten 25 Jahren vorgetragene Scheisse. Wo er hinblickt sieht er nichts als Lügen. Otto wird sich klar, dass er während 25 Jahren sich einfach nur selbst missbraucht hat und er beginnt zu verzweifeln. Nichts macht mehr Sinn, in ihm ist so viel Wut, Verzweiflung und Zweifel wie noch nie.
Das merkt auch Otto's Umfeld. Seine Frau glaubt, Otto habe Depressionen. Man schickt ihn zum Psychologen, der meint: "Midlife crisis" und verordnet ein paar Medikamente. Der gute Otto weiss weder ein noch aus und brav schluckt er die Medikamente. Gleichzeitig ist er wütend auf den Psychologen, ein weiterer Lügner im System, auf seine Frau (warum hat sie ihn nie auf den eigenen Irrtum aufmerksam gemacht, wie konnte sie zulassen, dass 25 Jahre des Lebens sinnlos verbraucht verfliessen?). Falls Otto sich mit Reiki oder Meditation beschäftigt hat, tauchen jetzt plötzlich merkwürdige Dinge auf, die er aber hinnimmt, sie sind ihm egal. Seine Wahrnehmung ändert sich bisweilen abrupt, er ist verwirrt, extrem vergesslich, weiss plötzlich den Pincode seiner Kreditkarte nicht mehr, er fühlt sich bisweilen wie ein Alien in der Welt.
Otto's Gefühlswelt ist durcheinander. Alles ist Zweifel. Sein Leben hat sich als Lüge entlarvt, es gibt niemanden, der ihm weiterhelfen könne. Sein Guru grinst und rät ihm zum weitermachen. Der Lügner! Die Phase dauert lange, paar Monate, die Spannungen in der Ehe nehmen zu, irgendwann zieht Ottos Frau aus dem Haus, glücklicherweise sind keine Kinder im Spiel. Otto ist jetzt alleine, aber ihm ist das scheissegal, überhaupt ist ihm alles in letzter Zeit völlig egal. Die Medikamente nimmt er nicht, zum Guru geht er nicht, beim Job hat er sich für einen Monat krankmelden lassen. Otto KANN nichts meht tun, alles kotzt ihn an. Einen Spaziergang unternehmen? Otto fragt sich: WOZU? Für das bisschen sinnlose Vergnügen? Musik hören? Otto fragt sich: WOZU? Für ein bisschen Zerstreuung? Mühselig schleppt sich Otto vom einen Tag in den nächsten, aber alles ist ihm scheissegal. Stundenlang liegt er nur auf seinem Bett und tut nichts, bis ihm der Rücken schmerzt, bis er keine Lebensmittel mehr zu Hause hat.
In ihm ist eine Art unendlich grosse Langeweile, eine Art existentieller Brechreiz, eine geistige Übelkeit nie gekannten Ausmasses. Otto hegt längst nicht mehr nur an den spirituellen Übungen oder der Idee der Erleuchtung Zweifel, nein, er hat auch begonnen, seinen eigenen Zweifel zu bezweifeln. Ja, seine eigenen Gedanken bezweifelt er, das eigene Denken! Denn anscheinen produziert dieses Denken nur sagenhaften Quatsch, aber trotzdem kann er nicht aufhören.
...
Irgendwann passiert's. Eines Nachts, Otto liegt in einem merkwürdigen Zustand, auf eine gewisse Weise völlig wach, auf eine andere Weise schlafend im Bett, seine Gedanken RASEN, er fragt sich grade: "Was kann denn einer, was kann eigentlich einer wie ich überhaupt mit Sicherheit WISSEN?" Otto hat schon tausend Antworten durchprobiert aber keine hat ihm eingeleuchtet, keine hat ihn befriedigt. Ganz plötzlich, mitten in einem Gedanken
setzt das Denken abrupt aus.
Verwirrt beginnt Otto den Gedanken nochmal von vorne, vergessen wir nicht, dass er halb im Schlaf aber gleichzeitig sehr, sehr wach ist. Er denkt denselben Gedanken nochmals von vorne, aber plötzlich, mitten in einem Gedanken
setzt das Denken abrupt aus.
Einatmen, Ausatmen. Otto hört in sich hinein. Keine Gedanken mehr. Otto setzt sich auf, schemenhaft die Umrisse seines Zimmers. Doch da ist kein Zimmer, da ist lauter Unbekanntes, lauter unverständliche Gegenstände. Otto hat das Gefühl, nicht mehr atmen zu können und er reisst das Fenster auf. Kühle Nachtluft strömt hinein und Otto sieht hinaus aus dem Fenster und was er da sieht, ist eine Welt, wie er sie noch nie zuvor gesehen hat. Nichts anderes als je zuvor, und alles völlig anders. Da ist nichts Geheimnisvolles an diesem Zustand, nein, Otto begreift zum ersten Mal im Leben, dass er sich bis anhin immer geirrt hatte. Wenn er bisher einen Baum angeschaut hat, dann war alles was er dort jeweils sah, nicht der wirkliche Baum, sondern er sah im Grunde genommen das von Gedanken erschaffene Konzept eines Baumes. Überhaupt hat Otto in seinem Leben immer nur Konzepte und Gedanken in der Welt gesehen, nie wie die Dinge wirklich waren, nämlich völlig leer von allen Konzepten und Gedanken.
Da begreift Otto, dass er in seinem Leben dem grössten Irrtum aller Zeiten aufgesessen ist: Er glaubte, dass sein Denken Wahrheit produzieren würde. Das ist nicht so. Und jetzt perlt aus seinem Bauch heraus ein Lachen, stösst nach oben, unaufhaltsam, mit der Gewalt einer fahrenden Lokomotive beginnt Otto zu lachen. Er lacht, er lacht, er lacht sich die Irrtümer aus dem Bauch. Otto lacht und lacht und kann nicht mehr aufhören, er lacht Tränen. Immer hat er sich geirrt, schon sein ganzes Leben lang, immer war er im Irrtum! Es ist so absurd, er kann es gar nicht glauben, es ist so einfach, er kann es nicht glauben. Während der nächsten halben Stunde kann Otto nicht mehr aufhören zu lachen. ............