Wo und wie im Gehirn entstehen Affekte und Emotionen?
Aus Sicht der Hirnforschung und der Neuropsychologie besteht kein Zweifel daran, dass die soeben beschriebenen unbewussten Gehirnvorgänge höchst wirksam sind und bewusste Vorgänge beeinflussen (vgl. Goschke, 1996, 1997). Neben den subliminalen und vorbewussten Komponenten der Wahrnehmung sind dies vor allem Vorgänge im limbischen System. Das limbische System durchzieht das gesamte Gehirn; seine Tätigkeit erleben wir als Affekte und Emotionen bzw. affektive und emotionale Einfärbungen von Wahrnehmung, Vorstellung, Erinnerung und Handlungsplanung.
Die wichtigsten limbischen Zentren sind (1) ventrales tegmentales Areal (VTA) und zentrales Höhlengrau (PAG) im ventralen Mittelhirn (Tegmentum des Mesencephalon); (2) Hypothalamus, ventrales Pallidum, Mammillarkörper, anteriore, mediale, intralaminare und Mittellinienkerne des Thalamus im Zwischenhirn (Diencephalon); (3) orbitofrontaler, inferiorer temporaler, cingulärer, entorhinaler und insulärer Cortex, Amygdala, Septum, ventrales Striatum/Nucleus accumbens im Endhirn (Telencephalon). Im folgenden werden diese Zentren entsprechend ihrer funktionalen Rolle besprochen.
Der Hypothalamus ist das grundlegende Kontrollzentrum für biologische Grundfunktionen wie Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, Sexualverhalten, Schlaf- und Wachzustand, Temperatur- und Kreislaufregulation, Angriffs- und Verteidigungsverhalten und für die damit verbundenen "angeborenen" Trieb- und Affektzustände. Entsprechend seinen Funktionen ist der Hypothalamus mit nahezu allen anderen Teilen des Gehirns verbunden. Er hat enge Beziehungen zu den limbischen Anteilen des Telencephalon, d.h. zum Septum, zur Amygdala, zum Hippocampus und zum orbitofrontalen Cortex. Er kontrolliert die Hirnanhangdrüse (Hypophyse) und hierüber das Hormonsystem (besonders auch die hormonale Stressreaktion), die vegetativ-autonomen Kerngebiete des Hirnstamms und Rückenmarks, die ihrerseits Ausgangspunkt des sympathischen und parasympathischen Nervensystems sind.
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Die Speicherung des Wissens findet nicht im Hippocampus und im EPPC selbst statt, sondern modalitäts- und funktionsspezifisch in den verschiedenen Rindenarealen. Entsprechend befindet sich das visuelle Gedächtnis in den visuellen Cortexregionen, das auditorische Gedächtnis in den auditorischen Arealen, die sprachlichen Erinnerungen in den Sprachzentren usw. Eine bilaterale Zerstörung des Hippocampus führt zu zeitlich begrenzter retrograder Amnesie, d.h. zum Verlust von Teilen des Altgedächtnisses, sowie zur anterograden Amnesie, d.h. zur Unfähigkeit, neue Inhalte in das deklarative bzw. semantische und episodische Gedächtnis einzufügen. Für derartige Patienten ist alles neu, was ihnen nicht seit langem bekannt und "eingeschliffen ist.
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Die Amygdala nimmt anatomisch wie funktional die entscheidende Rolle bei der Produktion und Steuerung von Emotionen ein. Sie wird als das Zentrum der furcht- und angstgeleiteten Verhaltensbewertung angesehen; Läsionen der Amygdala führen zum Fortfall der Furcht- oder Angstkomponente beim Erleben von Geschehnissen.
Die Amygdala ist anatomisch und funktional sehr unterschiedlich zusammengesetzt. Sie besteht aus einer corticomedialen Kerngruppe, die vornehmlich mit der Verarbeitung olfaktorischer Informationen (vor allem von Pheromonen) zu tun hat, einer basolateralen Kerngruppe (bei Primaten einschließlich Mensch besonders stark entwickelt), die mit Furchtkonditionierung zu tun hat, und dem bereits genannten Zentralkern, der den Ausgangsbereich der Amygdala bildet und wie der Hypothalamus "angeborene" affektive Funktionen besitzt. Die Amygdala unterhält direkte oder über den mediodorsalen Thalamus ziehende rückläufige Verbindungen mit dem assoziativen Cortex, und zwar vornehmlich mit dem orbitofrontalen, temporalen und cingulären Cortex. Allgemein sind die von der Amygdala zum Isocortex verlaufenden Bahnen stärker als die Bahnen in umgekehrter Richtung. Direkte sensorische (somatosensorische, visuelle und auditorische) Eingänge erhält die Amygdala über den Thalamus, die im basolateralen Kernbereich enden. Hier enden auch Eingänge vom Hippocampus und der umgebenden Rinde, die kontextuelle Gedächtnisinhalte liefern (siehe unten).