Die deutsche Sekte in Chile, Colonia Dignidad

Terrageist

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Ich habe gerade eine sehr lange Doku auf Arte gesehen über die Colonia Dignidad, eine ehemalige deutsche Sekte in Chile. (Heißt übrigens "Kolonie der Würde".) ..
Zunächst wollte ich das eigentlich gar nicht sehen, aber dann war es doch so fesselnd irgendwie, dass ich mir jetzt alle Teile, ich glaube vier, angesehen habe.
Man wird förmlich hineingezogen in dieses Gefühl des Sumpfes, vor allem auch, weil viele ehemalige Mitglieder und Bewohner zu Wort kamen und direkt aus ihrem eigenen Leben und Erfahrungen erzählt haben.

Es haben dort, wenn es stimmt, Folter, Unterdrückung, Gängelung, Ausnutzung von Arbeitskraft ohne Bezahlung usw. stattgefunden. Die Menschen sind / waren scheinbar dermaßen abhängig, dass sie auch gar nicht begreifen konnten, was mit ihnen geschieht.

Nun, bei aller Dramatik dabei, spüre ich auch den leisen Gedanken, dass auch so etwas (eine solche Doku zum Beispiel) für bestimmte Zwecke eingesetzt werden kann.

Es fing an mit christlichem Glauben an Gott, einen charismatischen Führer oder Sprecher, der dann irgendwann seine Gefolgschaft, die ja alle mehr oder weniger "freie" Menschen waren, so dermaßen beginnt, zu beherrschen, dass sie Folter, Erniedrigung und Entzug der eigenen Entscheidungsfreiheit, nicht zu bemerken scheinen oder sich nicht mehr wehren.
Außerdem verpassen von Drogen, Missbrauch von Kindern, Trennung Eltern - Kinder, Männer - Frauen, Mädchen - Jungen.
Und die Menschen glauben scheinbar, dass das alles richtig ist, und dass die Menschen außerhalb ihres kleinen "Reiches" schlecht sind usw..

Was ich hier gerne mal diskutieren würde, ist gar nicht mal unbedingt diese Sekte, oder ob diese Dinge wahr sind oder nicht,
sondern inwiefern könnt ihr euch vorstellen, dass Menschen in jeglicher Hinsicht beeinflussbar und bereit für mögliche Gehirnwäsche sind. Wo ein Mensch aufmerken würde, wo liegen die Grenzen im menschlichen Bereich?
Einzelne haben erzählt, dass sie zwar erkannten oder so ein Gefühl bekamen, dass "etwas nicht stimmt", aber sie sahen sich dann völlig alleine, es herrschte ein System des gegenseitigen Ausspionierens, wo jeder sehen musste, dass er nur ja nicht das "Falsche" dachte, sagte oder tat.
Die Strafen waren hart, und Entkommen scheinbar sehr schwer.

Zumal diese Menschen auch kein eigenes Geld verdienten, sie arbeiteten hart und mussten schwer arbeiten, bekamen aber nichts dafür.
Somit wurde dann auch gesagt, als ein Vater versuchte, sein ihm weggenommenes Kind, was sie dort mit allen Kindern machten, zurückzubekommen. Er könne ja nicht dafür sorgen und hätte ja nichts.
So gab er auf, weil er vom Gefühl her diesen Sprüchen und Aussgen recht geben musste.

Es haben wohl einzelne Menschen geschafft, durch deren Widerstände das Ganze allmählich aufweichte.
Der Sektenführer ist 2010 gestorben. Er hatte politisch, da es ja (zwar eine deutsche Sekte, aber) in Chile war, sein Fähnchen in die richtigen Winde gehängt, bei Folterungen unterstützt, Tötungen und gewaltvollem Einsperren . Waffen hergestellt und geliefert, und Vieles scheint wohl bis heute noch nicht ganz aufgeklärt zu sein.
Weder die chilenische noch die deutsche Regierung wollten sich da die Finger verbrennen.
Es war / ist wie totes Niemandsland.

Fragt man sich, ist so etwas möglich?
 
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Wie kann das passieren? Nun, relativ leicht. Der Mensch ist leicht zu ideologisieren, wie ja sämtliche Religionen, politische Richtungen und Moden beweisen.
Und je geringer die Bildung ist, mit umso einfacheren Methoden sind Menschen zu ideologisieren.

Und das wiederum nutzen natürlich Sektenführen (in allen Sekten und Religionen) aus. Denn gerade Menschen die sich sehr stark zu religösem hingezogen fühlen, d.h. Führung im Leben brauchen, sind natürlich prädestiniert, sich einem (Sekten)Führer unterzuordnen.

Im Endeffekt ist es egal, ob es ein Sektenführer, der Papst oder Merkel ist ... jeder Führer findet seine blinden Folger ... auch wenn dieser noch so viel Unsinn verbreitet.
 
Im Endeffekt ist es egal, ob es ein Sektenführer, der Papst oder Merkel ist ... jeder Führer findet seine blinden Folger ... auch wenn dieser noch so viel Unsinn verbreitet.

Der Punkt ist, wenn dieser "Führer" dann scheinbar die umgebenden Mächte und andere Menschen, mit denen man zusammenlebt, "in der Hand" hat.
So dass der Einzelne das Gefühl hat, nichts tun zu können.
Es ist ein gegeneinander Ausspielen durch Einsetzen und Instrumentalisieren von natürlichen Ängsten.
Wurde auch anhand von Beispielen deutlich gezeigt.

Eine Mutter hörte von Kindesmissbrauch und wollte ihren kleinen Sohn dort herausholen.
Da man sie nicht zu ihm ließ, bat sie die örtliche Polizei um Hilfe.
Ihr Sohn wurde währenddessen aber sehr unangenehm (von Mitgliedern der Sekte) "verhört",
so dass er schließlich glaubte, die Polizei, die mit seiner Mutter kam, wolle ihm Übles,
und sich mit Händen und Füßen wehrte.
Das wirkte unglaublich durchdacht und kann von daher ansich in keiner Weise tatsächlich diese ursprünglich angegebenen Glaubensrichtungen
wie solche am Anfang geäußerten Gedanken: "Gott sei in allem und in der Natur, man bräuche dafür die Kirche nicht, usw..", nicht tatsächlich und ehrlich wiedergeben.
Man könnte sagen, die späteren Taten und Verhaltensweisen entsprachen dem nicht.

Dennoch aber, wie ich auch schon erwähnte, kam mir das merkwürdige Gefühl, da ich normalerweise eher nicht auf so etwas anspringe,
dass auch Dieses instrumentalisiert werden kann, und in bestimmten Weisen hingestellt.
Es fiel mir auf, als ich nach passenden Videos suchte, und dann in direkter Nachbarschaft aber dann Themen fand, bei denen ich mir nicht sicher
wäre, ob man das tatsächlich alles in einen Topf oder ähnliche Töpfe werfen könnte / sollte.

Somit wird man manipuliert bei jedem Schritt. :)
 
Gibt es jene Sekte denn noch?

Sie haben den Ort umbenannt, dieses Grundstück in Chile, aber es leben noch einige dort und versuchen, eine neue Art von einem gewissen Tourismus aufzubauen, so wie ich das verstanden habe. Sie versuchen, zu (über)leben.
Die meisten der ehemaligen Sektenmitglieder sind inzwischen sehr alt und wissen nicht, anders zu leben, es sind ihre Wurzeln und ihr Zuhause.
Wie gesagt, ist rechtlich noch Vieles nicht geklärt, Anwälte und andere Menschen kämpfen immer noch für Gerechtigkeit und Wahrheit.
Es wurden außerdem in den Kriegszeiten Chiles, bzw. politischen Unruhen und Umstruktuierungen, viele Menschen dort gefangen, gefoltert und getötet.
Die Angehörigen suchen immer noch nach Gewissheit, du brauchst nur mal gucken, was es da für YouTube-Videos drüber gibt.

Es ist /war weitgehend politisches Niemandsland. Die Menschen dort, von denen die meisten deutsche Staatsbürger sind, bekamen nie Gehälter oder Rente.
Bzw. wurden Renten wohl einfach nach dort geschickt, weil Anträge darauf gestellt wurden (von der Sekten-Elite), kamen aber niemals bei den
Adressaten an. Wie das heute läuft, weiß ich nicht.
Man hat sich auch von der deutsch-politischen oder sozialen Seite her scheinbar nie getraut, genauer nachzusehen, wie es den Menschen dort geht.
Sie wurden tatsächlich nachher langsam wie in einem Totalitär-Staat gefangen gehalten, geschlagen, gequält, missbraucht, mit ElektroSchocks gepeinigt.
Eltern von Kindern, Männer und Frauen (auch wenn sie ursprünglich verheiratet gewesen waren) voneinander getrennt.
Die Frauen außerdem noch vom Sektenführer mit lauten Worten beschimpft, wie sie seien "faules Fleisch" und Solcherlei.

Man fragt sich, wie man sich das alles gefallen lassen konnte. Aber sie waren dort, zum einen jeder für sich völlig alleine, zum anderen mitten in einer Art Wildnis, außerdem im Ausland. Rundherum von Hunden und hohen Zäunen bewacht, und die Strafen waren sehr schlimm.
Sie hatten halt auch ein Krankenhaus, Schwestern und Ärzte. Wenn Menschen schwierig wurden, zum Beispiel auch die, die sich sexuell missbrauchen lassen sollten
(kleine und jugendliche Jungen), so bekamen sie einfach Valium und Ähnliches. Waren stets benommen, wenn nicht gar bewusstlos.
Dieses geschah zum einen den ursprünglichen deutschen Sektenmitgliedern, später aber auch chilenischen Jugendlichen, denen später die Tore dieser
Eigenwelt geöffnet wurden. Es wurde sogar Werbung dafür im Fernsehen gemacht. Die Eltern gaben ihre Kinder gerne dorthin, weil die dachten, sie hätten es dort
schön. Es gab zeitweise auch deutsche Politiker, die das unterstützten. Keiner sah wirklich hinter die Kulissen.

Und mit den neuen Machthabern in Chile war der damalige Sektenführer sowieso sehr "eng".
Er unterstützte, wie gesagt, mit Waffenlieferungen, Gefangennahmen und Folterungen.

Wenn du fragst, ob sie noch existieren, sie existieren wohl noch als alte wie vor den Kopf geschlagene Menschen, die nichts anderes kennen,
und als rechtliche Kämpfer und Familienangehörige, vor allem in Chile, die wissen wollen, wo ihre Angehörigen verschwunden sind und was mit ihnen geschah.
 
Ich habe mir das jetzt eben auch nochmal angesehen, und viele Worte kann man nicht mehr darüber verlieren.

Es sind so viele Menschen, die von sich selbst erzählen, dass es wohl wahr sein muss.

Aber man merkt, wie verschachtelt manchmal alles ist.

Imgrunde sind die ersten Gedanken, die diese Menschen damals, so kurz nach dem zweiten Weltkrieg,
wieder Hoffnung aufkeimen ließen, und dass was sie taten, ihre Zelte hier gänzlich abbrechen
und für ein inneres Miteinander auch dann alles Ersparte mit hinzugeben.
Ihre letzte Sicherheit aufzugeben für eine Art innerste Überzeugung, dass Gott und christlicher Glaube
alles schon richten werden.

Auch wie sie heute da stehen, und offen über das Erfahrene berichten, habe ich den Eindruck von viel Mut
und Kraft.

Das noch zusätzlich zu dem ganzen Übel das in diesen Dokus / Filmen offenbar wird.

Das Land das sie dort betraten, war wirklich wunderschön, paradiesisch.

Nur dann tat sich das Tor zur Hölle auf.

Aber es gibt halt Menschen, die dort aufgewachsen sind, es als ihre Heimat betrachten,
und beschlossen haben, dort zu bleiben.
Allerdings als Familie, und ohne Sektenallüren, das weiß man nicht, klang erstmal so,
nach Aussagen eines jungen Mannes nebst Frau und Kindern.

Auf jeden Fall sind Geschichten von Menschen auf der Erde, egal wie deren Schicksal, immer auch,
nehme ich mal stark an, Teil in und von uns allen, was ich durchaus ganz persönlich meine.
Weil die Menschheit als Ganzes sich in jedem Einzelnen widerspiegelt.

Somit ist es ein Fingerzeig auf unsere eigenen Wunden.
 
Auf jeden Fall sind Geschichten von Menschen auf der Erde, egal wie deren Schicksal, immer auch,
nehme ich mal stark an, Teil in und von uns allen, was ich durchaus ganz persönlich meine.
Weil die Menschheit als Ganzes sich in jedem Einzelnen widerspiegelt.
Somit ist es ein Fingerzeig auf unsere eigenen Wunden.

Da gebe ich Dir vollkommen Recht!
Danke dass Du die Infos hier hereingebracht hast.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, habe die Dokus auch gesehen.

Erst fragt man sich, meine Güte, wie ist das möglich, aber nach nur einem Moment des Nachsinnens wird jedem bewußt, dass jeder Mensch dann gehirngewaschen oder denkbetäubt und handlungsbetäubt ist, wenn er emotional dermaßen in die Ecke gedrängt wurde, weil ein Trauma und wieder traumatisierende Ereignisse dem vorangingen. Da werden Menschen zu Tyrannen und zwingen andere mit nur leichtem Druck, weil genug Druck von innen bereits da ist. Es kommt zu einer Kettenreaktion und die Menge entscheidet sich dann, weil auch manchmal nicht mehr die Kraft da ist, lieber beizugeben als auf verlorenem Posten weiterzukämpfen.

Jedem Menschen kann das passieren, die Bildung oder die Herkunft oder was auch immer hat damit nichts zu tun, glaube ich.

Wenn wir erschüttert sind oder erst ungläubig sind über diese oder andere Berichte, zeigt es, dass wir noch Menschlichkeit in uns haben und dass wir vielleicht - wenn wir eine solche Situation erleben - auch noch ein wenig Handlungskraft in uns haben, die Umstände zu ändern und sich und andere zu befreien.
Wenn wir Schmerz dabei empfinden, dann ist es der Schmerz, der uns aus gleicher (psychologischer) Quelle selbst einmal heimsuchte.

Ich hatte dieses Erleben, als ich neulich einen Bericht über eine Familiengeschichte gesehen habe.

Ich poste hier den Link zu der Doku:

Ich danke Gott, dass ich einen Ausweg damals gefunden hatte aus meiner Geschichte und einem schlimmeren Schicksal entgangen bin. Aber es hätte mich auch so treffen können wie diese Brüder.

Keiner von uns ist da besser oder schlechter oder mehr oder weniger. Wir sind alle nur Menschen.

Manchmal ist ein Entkommen Gnade, denk ich mir.

Alles Liebe ... bin wieder unterwegs ...
eva
 
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So besehen, die Frage, ob diese Sekte noch existiert, muss man ansich mit "Ja" beantworten.

Es fand keine Auflösung statt. Eher im Gegenteil wurde die heutige Gemeinschaftsführung vor einem Gericht zu Zahlungen verurteilt, die scheinbar, zumindest bis zum Erstellen dieser Dokus, nicht getätigt wurden.
Sie haben sich umbenannt, seit 1988 in "Villa Baviera / „Dorf Bayern“.
Sie treten ja auch gern nach außen hin in zünftigen Lederhosen oder Dirndln auf, zumindest werden solche Auftritte gern gezeigt, ist, glaube ich , so ein Bild das man allgemein im Ausland (wenn man sie nicht näher kennt) von Deutschen hat.

Von den ehemals 300 Mitgliedern und Bewohnern leben heute noch 80 auf dem Gelände.

Die Frage wäre nun, wer "führt" das heute eigentlich, und wer bestimmt über die der Gemeinschaft eigenen Besitztümer, Gelder usw..

Wenn man den Geschichten glauben darf, so hatte Paul Schäfer, der Sektengründer ursprünglich alles von Anfang an selbst höchstpersönlich in der Hand.
Er hat demnach ganz willkürlich, (hatte ihnen ja erzählt, Gott spräche durch oder zu ihm), die "Geschäfte" seines Reiches dort geführt.
Er ist nun seit zehn Jahren tot.
Es haben Viele in den Dokus den Mund aufgemacht und erzählt, wie es (für sie) war, was im einzelnen geschehen ist usw..

Jedoch, wovon und wie sie heute leben, wie das Ganze weitergeführt wird ,usw. wurde tunlichst verschwiegen.

In welcher Form das überhaupt organisiert ist. Alles (an Verantwortung) wurde weitestgehend auf diesen gestorbenen Menschen Paul Schäfer geschoben und gemünzt.
Die "Organisation" aber existiert weiter.

Sie haben den Bereich für Touristen geöffnet und versuchen, sich darzustellen.

Es ist wohl im Ganzen eine beeindruckende autarke Welt dort.
Mit eigenem Stromerzeuger usw.

Imgrunde viel Potenzial, wenn man glauben möchte, was Menschliches kann.

Dass es teuflisch sein kann, haben wir jetzt schon gesehen. :)


Lieben Gruß
 
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