Ich schau dir in die Augen Kleines
In dem folgenden intimen Bericht beschreibt eine Frau von heute, die im Zölibat lebt, ihre Entscheidung, der Sexualität für eine bestimmte Zeit zu entsagen, und ihre Entdeckung einer neuen befreienden Sichtweise in bezug auf die Möglichkeit wahrer Nähe zwischen Mann und Frau. Vor zwei Jahren trat ich in das Zölibat ein. Endlich war es soweit. Es war etwas, was ich mir sehr gewünscht hatte und in das ich hineinging mit einer unerhörten Leidenschaft. Es kam dem Ende der Welt gleich, dem Ende meiner Geschichte und Identität als attraktive Frau.
Statt dessen gab es nur noch eines jetzt: Freiheit. Wunderschöne, weite Unendlichkeit. Es war ein Rausch. Keine Romanze, keine stürmische und innige Beziehung, keine noch so warme Geborgenheit in den Armen eines Mannes - nichts kam meiner Erfahrung dieses Schrittes gleich. Es war das, wovor ich mich immer am meisten gefürchtet und was ich mir gleichzeitig am meisten gewünscht hatte: ich war allein.
Ich rasierte meine Haare ab und verpflichtete mich zu einem Leben ohne sexuelle Aktivität. Entsagung. Kein Mann wird sich nach mir umdrehen. Auch die Illusion, dass es einen Märchenprinzen in der Zukunft gibt, war vorüber. Die Reise, die ich begann, führte in unbekanntes Gebiet, und ich würde nicht zurückkommen. Es gab mich nicht mehr in dieser Welt der Schönen, der Reichen und der Berühmten. Meine Eintrittskarte zu dieser Welt war mit meinen Haaren verschwunden. Die Entscheidung zum Zölibat kam nach reiflicher Überlegung und langer Betrachtung. Es war meine bewusste Wahl.
Vor kurzem, als wir aus dem Fenster hinaus auf zwei alte Nonnen in schwarzen Gewändern schauten, sagte ein nichtsahnender Arbeitskollege gedankenverloren: "Sieh mal, Nonnen! Das ist auch eine Sache der Vergangenheit." Er bemerkte nichts. Eigentlich ist mein Zölibat unauffällig, obwohl mit jedem Voll- und Neumond regelmäßig mein Kopf rasiert wird und alle sich neu formierenden Ansätze von Identität, von so etwas wie gutem Aussehen verschwinden. Aber es geschieht still, andächtig und mit zunehmender Selbstverständlichkeit. Zur Arbeit trage ich Hüte, Mützen, Kappen - immer etwas auf dem Kopf. Natürlich erregt das Neugierde, aber nach dem ersten Schock fällt es nicht mehr auf und scheint auch nicht weiter von Interesse zu sein.
Anfänglich begegnen mir ungläubiges Kopfschütteln, ironisches Grinsen und schiere Sprachlosigkeit. Manchmal auch die ein oder andere verlegene Frage nach dem Grund. Manchmal entsteht ein Gespräch, meistens mit Frauen, die Parallelen sehen, sich gleichzeitig angezogen und abgestoßen fühlen. Ist es möglich, dass eine von uns sich dem Werteschema unserer Gesellschaft in bezug auf Frauen so absolut entzieht? Auf eine Weise entzieht, die unmissverständlich ist und persönlich eine große Standfestigkeit verlangt. Als Frau in unserer Gesellschaft keine Haare zu haben ist eine große Herausforderung. Schließlich besteht diese Welt, unser Denken, unsere Sehnsüchte aus Ideen über sexuelle Macht. Oder nicht?
"Hast du denn keine körperlichen Bedürfnisse? Ich könnte ja niemals ohne!" Das ist die am meisten geäußerte Meinung. Es ist schwierig für den modernen Mann oder die moderne Frau, sich ein Leben ohne sexuelle Aktivität vorzustellen. Unser Selbstwertgefühl steht und fällt mit unserem Empfinden über die eigene Attraktivität, mit deren Bestätigung und mit der Häufigkeit und Intensität körperlicher Befriedigung. Sexualität ist ein moderner Gott. Die Idee, wahre Erfüllung in romantischen und sexuellen Beziehungen zu finden, ist heute noch immer die mächtigste Versuchung und die größte Illusion.
Auch mein eigenes Leben war geprägt und getrieben von der Sehnsucht, tiefes Eins-Sein, überwältigendes Vertrauen und absolute Hingabe in Romanzen und sexuellen Abenteuern zu erfahren - und nie wieder zu verlieren. So sehr mich Zweifel daran auch plagten, konnte ich es schon als Teenager nicht erwarten, in die Welt der Erwachsenen vorzudringen, einen Freund zu haben, jemand zu sein, das Leben in mir sprudeln zu fühlen durch die Elektrizität romantischer und sexueller Gefühle. Humphrey Bogart und Ingrid Bergman in Casablanca sind zeitlose und dramatische Ikonen eines sich nicht erfüllenden Versprechens von ewiger, ekstatischer Glückseligkeit.
Ihre Gesichter nass vom Regen in der Abschiedsszene. Sie weiß nicht, dass er bereits dazu entschlossen ist, ihre Liebe einer größeren Verantwortung zu opfern. Sie ist verliebt, in einem schwerelosen Taumel. Das ist alles, was sie zu wissen scheint und wissen will. Endlich haben die Liebenden wieder zusammengefunden, und die Welt erscheint ihr im Gleichgewicht, trotz aller Turbulenzen, die sie erfährt. Sie wird Victor Laszlo verlassen und mit Rick in eine ungewisse, aber berauschende Zukunft gehen.
Als ich diese Szenen zum ersten Mal sah, konnte ich lange Zeit den Schmerz kaum ertragen, als Rick ihr zu verstehen gibt, dass sie nun doch mit Victor ins Flugzeug steigen wird und er zurückbleibt. Die beiden Männer verstehen sich. Der französische Polizist versteht. Alle drei Männer sind erhaben über den enormen emotionalen Schlag, den Ingrid Bergmans Augen so eindringlich zum Ausdruck bringen. Here's looking at you, kid.
Die Welt der Frau ist die Liebe zum Mann. Ohne ihn ist sie nichts, ganz egal wie emanzipiert wir heute zu sein glauben. Warum sonst würden wir uns so viel Mühe geben, unsere Anziehungskraft zu betonen und zu pflegen? Diese Macht und Sicherheit, die uns die Liebe und Zuneigung eines Mannes bringen, sind uns enorm wichtig. Wir erleiden unsägliche Qualen und tiefe Zweifel, sollten sie uns abhanden kommen und in Frage gestellt werden. Männer und Frauen haben sich auf einen Code geeinigt, innerhalb dessen eine gegenseitige Verschwörung und Gefangenschaft aufrechterhalten bleibt. Men leave. Baby, please don't go!
Nach der dritten großen und gescheiterten Liebesaffäre in meinem Leben begann ich aufmerksam zu werden. Wilhelm Reich sagt, dass wir Menschen uns nach einem biologischen, hormonellen Programm paaren. Für die Dauer von etwa vier Jahren werden bestimmte Hormone ausgeschüttet in Mann und Frau gleichermaßen, die eine sexuelle Anziehung garantieren. Danach hört das auf. Es ist ungefähr der Zeitraum, der nötig ist, eventuelle Kinder aus dem Gröbsten heraus zu haben.
Die Fortpflanzung der Rasse muss gesichert werden. Dann geht man weiter. Das genau beschrieb meine eigene Erfahrung. Nach vier Jahren etwa verlor ich das Interesse an meinem sexuellen Gegenüber. Meist verliebte ich mich in jemand anders, manchmal war ich einfach gelangweilt und oft so verärgert über die persönlichen Ticks meines ehemaligen Märchenprinzen, dass eine Trennung einfach das Vernünftigste war. Jeder konnte das sehen. Alle unterstützten mich in dieser Meinung, und den Männern erging es meist nicht anders.
Für eine Weile, während meiner Studentenzeit, zog ich wie viele damals die Konsequenzen aus meiner Einsicht, dass wahre Liebe eine Illusion ist, und unterhielt mehrere, ausschließlich sexuelle Beziehungen. Die sexuelle Befreiung war gerade gut unterwegs mit den jungen Leuten und hatte ihre zerstörerische Phase begonnen. Die Zeit der mutigen Experimente der Kommunen war zu Ende, und jetzt kam immer häufiger eine zynische und aggressive Note zum Vorschein.
Niemand wollte sich wirklich mehr auf etwas einlassen: Wir sind zusammen, aber wir verpflichten uns zu nichts. Zu groß war die Angst, wieder verletzt, nass und kalt im Regen zu stehen, nicht zu verstehen, warum das Versprechen der immerwährenden, alles gutmachenden Liebe, die "mein Leben" von Grund auf heilt, die alle Fragen beantwortet, sich nicht erfüllte. No more Ingrid Bergman, no more Casablanca.
Die Wut über diese Desillusionierung trug ich auch zu den Frauengruppen. Da waren wir uns alle einig über den wahren Feind: der Mann, das Patriarchat. Als Frauen hatten wir den kürzeren gezogen, wohin man auch immer schaute: Im Beruf waren wir unterprivilegiert, in der Liebe waren wir die Dummen, und wenn Kinder da waren, hatten wir allemal die volle Verantwortung. Unsere Zusammenkünfte waren voller Ärger und voll der hilflosen Gewalttätigkeit von Opfern großer Ungerechtigkeit. Es gab kein Verzeihen. Dennoch - heute, nach etwa 15 Jahren, gibt es diese Frauengruppe nicht mehr, und fast alle sind in "festen" Beziehungen, entweder mit einem Mann oder mit einer Frau. Meistens aber mit Männern.
Was ist aus der Revolution geworden? Was ist aus unseren Einsichten geworden? Einer meiner Freunde sagte damals zu mir: "Wir verzweifeln nicht, wenn der Krieg in Vietnam nicht zu Ende geht, wenn das Atomkraftwerk nun doch gebaut wird; wir verzweifeln, wenn unsere Beziehungen in die Brüche gehen." Nach wie vor scheinen Liebesbeziehungen das Wichtigste in unserem Leben zu sein, trotz aller Bewusstwerdung, trotz aller mühsam errungenen politischen Fortschritte in bezug auf Frauenrechte, trotz aller Erkenntnisse durch alle möglichen Meditationen.
Die sexuelle Seite des menschlichen Lebens ist sehr verwirrend. Lust, sexuelles Begehren, kann jeden Moment unsere Wahrnehmung überfluten und uns zu Handlungen veranlassen, die wir manchmal schon kurze Zeit später bereuen. Mein eigenes Leben ist voller Beispiele für die zerstörerischen Konsequenzen, die ein solch unreflektiertes Handeln nach sich ziehen kann. Ich hatte lange überlegt, bevor ich mich zum Zölibat entschlossen hatte. Die Entscheidung kam nach der Einsicht, dass ich dem Mann, den ich am meisten begehrte, nicht vertraute. Eine sexuelle Beziehung war daher ausgeschlossen.
Ich wollte meine Vergangenheit nicht wiederholen und endlose Machtkämpfe führen. dass es mir an Vertrauen fehlte, hatte mich zutiefst schockiert. Aber es eröffnete eine Untersuchung für mich, in der ich den fundamentalen Fragen meines Lebens zum ersten Mal mit echtem Interesse begegnete: Was ist Liebe? Was ist sexuelle Anziehung? Warum fürchte ich mich davor, allein zu sein, allein und unabhängig? Wer bin ich wirklich, wenn ich auf meine sexuelle Anziehungskraft verzichte, wenn ich auf die sexuelle Seite des Lebens allgemein verzichte? Was bedeutet es wirklich, darauf zu verzichten? Was heißt es, für mich selbst Verantwortung zu übernehmen?
Immer wieder war ich Kompromisse eingegangen, wenn es um das Objekt meiner körperlichen Begierde ging, wenn romantische Ideen mir das Paradies auf Erden versprachen. Das Leben ist so groß, so unfassbar in seinen Geheimnissen, so überwältigend in seiner Schönheit, und ich konnte mich nicht von den nagenden Sorgen meines Liebeslebens und meiner sexuellen Verstrickungen befreien. Der Mann stand immer im Zentrum meines Universums. Gleich neben mir. Da standen wir, und alles neben, hinter, unter oder über uns konnte ich nur vage ausmachen. Es war kaum etwas anderes zu erkennen. Und gleichzeitig gab es eine Sehnsucht in mir, die nie und nimmer ihre Erfüllung in diesem Rahmen finden würde. Aber ich hatte immer die Sicherheit des Konventionellen gewählt.
Als ich das Zölibat in Erwägung zog, war ich am meisten von dem Frieden angezogen, der sich immer wieder abzeichnete: Keine noch so große Versuchung würde mich von meinem Entschluss, alles für die Freiheit zu geben, abbringen. Kein Feilschen, keine Geheimnisse, kein Drama. Nur die Klarheit meiner Absicht, frei zu sein. In allen Beziehungen hatte ich mir immer gewünscht, dass ich allein sein könnte. Nun war ich allein und frei, all meine Ideen zu hinterfragen, meine ganze Erfahrung zu prüfen und herauszufinden, ob es möglich ist, sie auf ganz andere Art zu sehen, eine Art, die ein wirkliches Verstehen des menschlichen Lebens beinhaltet.
Dem Entschluss, sexueller Begierde nicht mehr nachzugeben, verdanke ich eine Perspektive auf sexuelle Gefühle, die mir verdeutlicht, wie unpersönlich, wie mechanisch und wie bedeutungslos sie sind. Es ist etwas, das seinen eigenen Rhythmus zu haben scheint. Es liegt an uns, darauf zu reagieren oder nicht. Nicht zu reagieren heißt, dass nichts passiert. Kein Karma wird geschaffen, es gibt keine Konsequenzen. Obwohl ein tosender Wirbelwind sexuellen Begehrens mich gerade fast verschlungen hätte, bin ich immer noch frei. Gefühle, von denen ich früher überzeugt war, dass sie mich zerreißen würden, tauchen auf - und ziehen vorbei. Nichts passiert. Ganz im Gegensatz zu dem, wie ich früher glaubte und hoffte, haben sexuelle Gefühle und Erfahrungen nichts mit Freiheit zu tun.
So ekstatisch sie auch sein mögen, sosehr sie mich auch über meinen Verstand hinausgetragen haben mögen - sie sind nicht von Dauer und eröffnen keine wahre Befreiung. Sie sind Teil der menschlichen Erfahrung. Der Teil, der etwas so Unromantisches und Mechanisches wie die Fortpflanzung der Rasse mit all seinen süßen Verlockungen unnachgiebig fordert. Ihnen zu entsagen, hat meine Überzeugung gestärkt, dass es möglich ist, in diesem Leben wirklich frei zu sein. Das bedeutet für mich mehr und mehr eine lebendige und reale Perspektive jenseits von Gedanken, jenseits von Gefühlen und jenseits von Zeit. Den Mut, dieser Perspektive Ausdruck zu verleihen, muss ich alleine finden. In diesem Mut zum Alleinsein liegt die Möglichkeit wirklichen Vertrauens in das Leben selbst.
Mein Zölibat ist zunächst auf drei Jahre begrenzt. Ursprünglich erschien mir das wie eine Ewigkeit, aber heute möchte ich dieses Leben gegen kein anderes tauschen. Nichts in mir drängt auf ein Ende dieser Zeit der Entsagung. Immer größer wird der Friede in mir, immer weniger attraktiv ist die Aussicht auf eine Beziehung. Das tiefe Verlangen, mich an die Schulter eines Mannes zu lehnen und geborgen zu fühlen, schwindet und damit meine selbstgewählte Abhängigkeit von der Illusion, dass es in diesem Leben irgendeine Sicherheit gibt.
Das Zölibat ist eine kostbare Gelegenheit für mich, wahre Unabhängigkeit zu entdecken und zutiefst zu erforschen, unabgelenkt und mit großer Hingabe. Je mehr ich mich von all meiner romantischen Hilflosigkeit und den zornigen Anklagen löse, desto mehr sehe ich in Männern die Menschen, die sie sind, und nicht den Erzfeind, den Frau bezwingen muss, um zu überleben. Es ist möglich, ihnen zu vertrauen. Es ist möglich, zuallererst Mensch unter Menschen zu sein.
Ich stelle mir ein neues Casablanca vor … Bogart steht da im Regen, sein Gesicht ist ernst und nass. Er scheint etwas erstaunt, aber sehr erleichtert, dass Ingrid ohne zu blinzeln, ohne eine Träne zu vergießen ins Flugzeug steigt und ihm zuruft: "Ich glaube, dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft!"