Lebendiges Totholz:
Grübelnd stehe ich da und schaue in das mich umgebende frühlingsgrüne Gehölz. Eine huschende Bewegung hat mich aufmerksam werden lassen und meinen Blick eingefangen. Ein kleiner Vogel verschwindet in einem Loch in der Rinde einer abgebrochenen Birke ...
Er ist noch nicht sehr alt, dieser Wald. Rank und schlank recken sich die jugendlichen Baumstämme dem Licht entgegen, und der Frühling bringt die zahllosen Blattknospen in einem wahren Wettlauf mit dem Tageslicht zur Explosion. Gerade war die Landschaft noch Braun von der Auszehrung des Herbstes und der nachfolgenden Winterkälte. Und jetzt strotzendes Leben so weit das Auge reicht ...
Doch wer länger verweilt, nicht nur einen flüchtigen Blick mitten ins pralle Leben verschwendet, wer genau schaut, sieht hier überall ein kleines lautloses Sterben. Kleine Stammreste stehen herum, die Kronenteile liegen zerschmettert am Boden, vom wütenden Bergwind zerlegt in kleine und größere Trümmer - gestorbene noch junge Bäume.
Langsam dringt die Nässe unter die Rinde der ehemals saftigen Stämme, Pilze kriechen in Spalten und Ritzen, sprengen die inzwischen weiche Haut splitternd ab. Insekten wühlen sich ins Innere des morsch werdenden Holzes, verbringen dort als Larven oft viele Jahre - karg ist ja die Kost! Von Spechten auf der Suche nach diesen innewohnenden Larven werden die Stämme zerhackt oder durchlöchert. Meisen bauen ihre Nester in die so entstandenen kleinen Höhlen und ziehen dort ihre Brut groß. Siebenschläfer folgen nach, dann hängen Fledermäuse tagsüber darin und warten auf die nächtliche Jagd .... bis der letzte modrige Rest kraftlos bei einem passenden Windhauch dumpf krachend zu Boden stürzt, den wartenden Würmern und Asseln entgegen. Sie bringen schließlich die Arbeit zu Ende, zerlegen den letzten Rest zu dampfendem nahrhaften Humus ...
Wer kann aber hier von "Totholz", von "Totem Holz" reden, wenn doch vieles Leben erst in seinem Tode erst beginnt? Fängt doch eigentlich erst das wahre Leben an, das lebensspendende Leben, wenn der Baum stirbt und zu zerfallen beginnt!
Jetzt ist der Blick ins Grün ein ganz neuer Blick ... kein Platz ist für Trauer, denn das Leben ist überall ...
Der Tod bringt das Leben ...