N
Nelida
Guest
Die Ankündigung kam schon vorige Woche. Überall in der Stadt wurden Plakate verteilt und an Wänden angeheftet. Die Menschen in der Stadt waren sehr aufgeregt und konnten es kaum erwarten, bis endlich der Tag da ist, an dem der Erleuchtete sie besuchen wird.
Vor allem die buddhistischen Mönche oberhalb der Stadt, in dem Kloster, das auf einer kleinen Anhöhe stand, waren neugierig auf den Erleuchteten, weil sie noch nie etwas von ihm gehört haben. Immerhin streben sie Erleuchtung an, und einige von ihnen behaupteten auch, dass sie bereits erleuchtet wurden.
Der oberste Mönch hatte sich vorgenommen, den Erleuchteten, wenn er denn wirklich kommt, zu empfangen.
Es hieß, er käme mit dem Zug, was ja schon etwas befremdlich war, da viele erwarteten, er würde mit einem großen Wagen und ebenso mit einem großen Gefolge, seinen Jüngern, kommen.
Und heute ist es so weit! Viele Menschen stehen am Bahnhof. An vorderster Front, wie sollte es anders sein, warten der Bürgermeister, einige Gemeinderäte, der oberste Mönch, der Pfarrer der katholischen, so wie auch der Pfarrer der evangelischen Kirche.
Als der Zug einfährt, halten alle nach einem ganz besonderen Menschen Ausschau, der mit Sicherheit auch ganz besonders gekleidet sein muss. In der Menge wird bereits davon gesprochen, dass der Erleuchtete sicher im Zug einige Menschen bekehrt haben muss und demzufolge wird er auch als Erster aussteigen und schon von jubelnden Reisenden begleitet werden.
Etwa zehn bis fünfzehn Menschen steigen aus, aber darunter ist kein besonderer Mensch zu finden. Die ersten sind ein Ehepaar, mit zwei kleinen Kindern. Eine alte Frau, die von ihrem Enkel empfangen wird, der ihr den Koffer abnimmt, steigt aus. Ihr folgen einige Jugendliche, die unbekümmert ob der Menschenmenge am Bahnsteig, laut lachend und scherzend aus dem Zug springen und weiter eilen. Auch ein älterer Mann, mit Halbglatze, dafür aber mit weißem Vollbart, steigt aus. Er sieht ziemlich gewöhnlich aus. Der Mann ist auch gewöhnlich gekleidet, mit grauer Stoffhose, einem kartierten Jackett und braunen Schuhen. Alles scheint von der Stange zu sein, - also wirklich nichts Besonderes. Und er hält einen kleinen Koffer in der rechten Hand. Hinter ihm steigen noch andere Menschen aus.
Noch wartet die Menschenmenge, in der Hoffnung, einen großen Mann, mit außergewöhnlicher Ausstrahlung, die alle in seinen Bann zieht, aussteigen zu sehen. Vielleicht lassen ihn die Weiterreisenden nur ungern gehen?
Alle, die ausgestiegen sind, wandern weiter, nur der ältere Mann bleibt stehen und sieht sich in der Menschenmenge um. Er stellt seinen kleinen Koffer ab und hebt beide Arme.
Ich bin es, den ihr erwartet, sagt er mit angenehm tiefer Stimme. Ich bin der Erleuchtete!
Ein Raunen geht durch die Menge. Niemand hätte diesen Mann für einen Erleuchteten gehalten! Er sieht so gewöhnlich aus, und er ist alleine. Kein Gefolge, keine Jünger, nichts. Wie kommt so einer dazu, sich Erleuchteter zu nennen? Und dann noch diese Plakate!
Eigentlich wusste niemand, woher die Plakate gekommen sind. Der Briefträger brachte das Paket mit den Plakaten ins Gemeindehaus. Absender war keiner drauf, aber die Plakate lasen sich außergewöhnlich. Auf ihnen stand, dass ein Erleuchteter eine Woche in die Stadt kommen und mit den Menschen, die gerne mit ihm sprechen möchten, reden wird. Auch das Hotel war angegeben, in dem er einchecken wird. Für den Abend war der große Saal im Hotel gemietet, wo der Erleuchtete auf einem Podest sitzen und alle Fragen beantworten wird.
Nur zögernd näherte sich der Bürgermeister dem Mann und streckte ihm seine Hand entgegen. Dann begleitet er ihn zum Taxi, das die beiden ins Hotel bringen soll. Die Menge bleibt irgendwie ratlos zurück. Die Geistlichen halten alles für einen Scherz und sind sehr enttäuscht. Dennoch machen sie unter sich aus, dass sie am Abend im Saal des Hotels sein werden und den selbsternannten Erleuchteten genau unter die Lupe nehmen werden.
Um 20h ist der Saal im Hotel bereits voll. Es mussten noch extra Tische aufgestellt werden, so viele Menschen kamen. Aber nicht, um den Erleuchteten sprechen zu hören, sondern viel mehr, um ihn als Betrüger zu entlarven.
Das Podium ist noch mit einem dunkelroten Vorhang verhüllt. Im Saal ist es sehr laut. Alle reden durcheinander und machen bereits unter sich die Fragen aus, die sie dem Mann stellen werden. Vor allem die Geistlichen, die ganz vorne an einem Tisch zusammen sitzen, haben sich vorgenommen, den Mann die kniffligsten Fragen zu stellen, denn erleuchtet kann nur der werden, der so ziemlich alle religiösen Schriften kennt. Der buddhistische Obermönch ist überzeugt, dass dieser Mann weder von der Lehre der Ordens-Älteren, noch vom großen Fahrzeug, und schon gar nicht vom Donnerkeil-Fahrzeug eine Ahnung hat. Er wird auch nichts über die vier edlen Wahrheiten und den achtfachen Pfad wissen. Und wahrscheinlich hat dieser Mann auch noch nie in seinem Leben meditiert. Ja, davon war der alte Mönch überzeugt, denn er erkennt Menschen, die meditieren, sofort.
Ein sanfter Glockenton ist mehrmals zu hören, bis sich die Menschen im Saal beruhigt haben. Langsam geht der Vorgang auf. Auf dem Podium befindet sich ein kleiner Tisch mit einem Sessel davor. Auf dem Tisch steht ein Mikrofon. Von der linken Seite kommt der Mann. Er trägt noch immer die graue Stoffhose, die jetzt, durch das grelle Licht noch verbeulter wirkt, - darüber einen hellblauen Strickpullover und auch noch immer die braunen Schuhe, die nicht unbedingt geputzt aussehen. Sein faltiges Gesicht sieht wahrscheinlich älter aus, als der Mann in Wirklichkeit ist. Die meisten meinten am Bahnhof, er dürfte so um die 65, höchstens 70 Jahre alt sein.
Der Mann verneigt sich vor seinem Publikum und nimmt schließlich auf dem Sessel Platz. Er klopft kurz an das Mikrofon, um sich von seiner Funktion zu überzeugen. Das Klopfen ist im ganzen Saal zu hören. Der Mann lächelt und meint scherzhaft, das wäre eigentlich alles, was es zu sagen gäbe, - das Klopfen.
Daraufhin geht ein Raunen durch die Menge im Saal.
Der katholische Pfarrer erhebt sich als Erster und fragt den Mann, welcher Religion er angehört.
Keiner, sagt der Mann kurz angebunden.
Abermals ein Raunen in der Menge.
Wie kommen Sie dazu, sich einen Erleuchteten zu nennen, wenn sie keiner Religion angehören? fragt ein Mann aus der Menge, nachdem sich der Pfarrer mit heruntergezogenen Lippen setzte.
Vielleicht sollte ich mich einmal vorstellen, beginnt der Mann. Mein Vorname Karl Friedrich sollte Ihnen genügen. Ich bitte sogar darum, so angesprochen zu werden. Ich habe über 50 Jahre in einem Büro als Buchhalter gearbeitet und bin nun in Pension. Ich war 38 Jahre verheiratet. Meine Frau starb an Gebärmutterkrebs. Unsere Kinder, zwei an der Zahl, sind mir auch schon vorausgegangen. Der Sohn, der ältere der beiden Kinder, starb 24jährig vor meiner Frau bei einem Verkehrsunfall. Die Tochter stürzte an ihrem 20igsten Geburtstag beim Bergsteigen ab.
Ich wurde, wie es in diesen Breiten so ist, römisch katholisch getauft, bin aber schon in noch jungen Jahren aus der Kirche ausgetreten. Sozusagen lebte ich vom kirchlichen Standpunkt aus in wilder Ehe, da wir nur standesamtlich getraut wurden.
Nun stehe ich knapp vor meinem 73igsten Geburtstag und kann sagen, dass ich mein Leben gelebt habe. Die Frage, warum ich mich einen Erleuchteten nennen kann, resultiert genau daraus.
Ich bin nicht hier, um über mein Leben und über die schweren Verluste, die ich in meinem Leben hatte, zu klagen. Ich bin auch nicht hier, um irgendjemandem von Euch zu sagen, dass ich den Schmerz über die Verluste überwunden hätte. Ich trauere noch immer um meine Lieben. Selbst meine Eltern habe ich schon sehr früh verloren, - den Vater, als ich erst 12 war und die Mutter, zwei Jahre nachdem meine Frau und ich geheiratet haben.
Es mag Euch allen seltsam erscheinen, warum ich mich einen Erleuchteten nenne und doch keiner Religion angehöre. Auf den Plakaten, die ich drucken ließ, steht nichts von Religion. Ich bin ein Erleuchteter des Lebens, - nicht mehr und nicht weniger. Ich habe in meinem Leben nichts entsagt. Ich rauche
Er nimmt ein Päckchen Zigaretten aus der Hosentasche und zündet sich eine Zigarette an. Kurz darauf kommt ein Kellner und stellt ihm ein Gläschen Rotwein auf den Tisch.
und ich trinke Alkohol. Manchmal trinke ich auch über den Durst. Und ich habe in zwei verschiedenen Städten eine Freundin, bei denen ich noch immer gerne liege. Ja, trotz der Trauer, die ich für meine verstorbene Ehefrau empfinde! Warum? Weil ich dem Leben und was es zu bieten hat, nicht entsage.
Es herrscht für einige Momente Stille im Saal. Dann ein eher leises Murmeln, bis eine jüngere Frau fragt, woran Karl Friedrich glaubt.
Woran ich glaube? wiederholt er die Frage und lächelt. Im Grunde genommen glaube ich an nichts. Alles im Leben ist vergänglich. Es gibt nichts, woran ich mich festhalten kann. Würde ich glauben, müsste ich mich an etwas festhalten. Aber da gibt es nichts. Nicht einmal dieser Tisch hier.
Karl Friedrich fasst mit beiden Händen an den Tisch und rüttelt daran.
Vor allem die buddhistischen Mönche oberhalb der Stadt, in dem Kloster, das auf einer kleinen Anhöhe stand, waren neugierig auf den Erleuchteten, weil sie noch nie etwas von ihm gehört haben. Immerhin streben sie Erleuchtung an, und einige von ihnen behaupteten auch, dass sie bereits erleuchtet wurden.
Der oberste Mönch hatte sich vorgenommen, den Erleuchteten, wenn er denn wirklich kommt, zu empfangen.
Es hieß, er käme mit dem Zug, was ja schon etwas befremdlich war, da viele erwarteten, er würde mit einem großen Wagen und ebenso mit einem großen Gefolge, seinen Jüngern, kommen.
Und heute ist es so weit! Viele Menschen stehen am Bahnhof. An vorderster Front, wie sollte es anders sein, warten der Bürgermeister, einige Gemeinderäte, der oberste Mönch, der Pfarrer der katholischen, so wie auch der Pfarrer der evangelischen Kirche.
Als der Zug einfährt, halten alle nach einem ganz besonderen Menschen Ausschau, der mit Sicherheit auch ganz besonders gekleidet sein muss. In der Menge wird bereits davon gesprochen, dass der Erleuchtete sicher im Zug einige Menschen bekehrt haben muss und demzufolge wird er auch als Erster aussteigen und schon von jubelnden Reisenden begleitet werden.
Etwa zehn bis fünfzehn Menschen steigen aus, aber darunter ist kein besonderer Mensch zu finden. Die ersten sind ein Ehepaar, mit zwei kleinen Kindern. Eine alte Frau, die von ihrem Enkel empfangen wird, der ihr den Koffer abnimmt, steigt aus. Ihr folgen einige Jugendliche, die unbekümmert ob der Menschenmenge am Bahnsteig, laut lachend und scherzend aus dem Zug springen und weiter eilen. Auch ein älterer Mann, mit Halbglatze, dafür aber mit weißem Vollbart, steigt aus. Er sieht ziemlich gewöhnlich aus. Der Mann ist auch gewöhnlich gekleidet, mit grauer Stoffhose, einem kartierten Jackett und braunen Schuhen. Alles scheint von der Stange zu sein, - also wirklich nichts Besonderes. Und er hält einen kleinen Koffer in der rechten Hand. Hinter ihm steigen noch andere Menschen aus.
Noch wartet die Menschenmenge, in der Hoffnung, einen großen Mann, mit außergewöhnlicher Ausstrahlung, die alle in seinen Bann zieht, aussteigen zu sehen. Vielleicht lassen ihn die Weiterreisenden nur ungern gehen?
Alle, die ausgestiegen sind, wandern weiter, nur der ältere Mann bleibt stehen und sieht sich in der Menschenmenge um. Er stellt seinen kleinen Koffer ab und hebt beide Arme.
Ich bin es, den ihr erwartet, sagt er mit angenehm tiefer Stimme. Ich bin der Erleuchtete!
Ein Raunen geht durch die Menge. Niemand hätte diesen Mann für einen Erleuchteten gehalten! Er sieht so gewöhnlich aus, und er ist alleine. Kein Gefolge, keine Jünger, nichts. Wie kommt so einer dazu, sich Erleuchteter zu nennen? Und dann noch diese Plakate!
Eigentlich wusste niemand, woher die Plakate gekommen sind. Der Briefträger brachte das Paket mit den Plakaten ins Gemeindehaus. Absender war keiner drauf, aber die Plakate lasen sich außergewöhnlich. Auf ihnen stand, dass ein Erleuchteter eine Woche in die Stadt kommen und mit den Menschen, die gerne mit ihm sprechen möchten, reden wird. Auch das Hotel war angegeben, in dem er einchecken wird. Für den Abend war der große Saal im Hotel gemietet, wo der Erleuchtete auf einem Podest sitzen und alle Fragen beantworten wird.
Nur zögernd näherte sich der Bürgermeister dem Mann und streckte ihm seine Hand entgegen. Dann begleitet er ihn zum Taxi, das die beiden ins Hotel bringen soll. Die Menge bleibt irgendwie ratlos zurück. Die Geistlichen halten alles für einen Scherz und sind sehr enttäuscht. Dennoch machen sie unter sich aus, dass sie am Abend im Saal des Hotels sein werden und den selbsternannten Erleuchteten genau unter die Lupe nehmen werden.
Um 20h ist der Saal im Hotel bereits voll. Es mussten noch extra Tische aufgestellt werden, so viele Menschen kamen. Aber nicht, um den Erleuchteten sprechen zu hören, sondern viel mehr, um ihn als Betrüger zu entlarven.
Das Podium ist noch mit einem dunkelroten Vorhang verhüllt. Im Saal ist es sehr laut. Alle reden durcheinander und machen bereits unter sich die Fragen aus, die sie dem Mann stellen werden. Vor allem die Geistlichen, die ganz vorne an einem Tisch zusammen sitzen, haben sich vorgenommen, den Mann die kniffligsten Fragen zu stellen, denn erleuchtet kann nur der werden, der so ziemlich alle religiösen Schriften kennt. Der buddhistische Obermönch ist überzeugt, dass dieser Mann weder von der Lehre der Ordens-Älteren, noch vom großen Fahrzeug, und schon gar nicht vom Donnerkeil-Fahrzeug eine Ahnung hat. Er wird auch nichts über die vier edlen Wahrheiten und den achtfachen Pfad wissen. Und wahrscheinlich hat dieser Mann auch noch nie in seinem Leben meditiert. Ja, davon war der alte Mönch überzeugt, denn er erkennt Menschen, die meditieren, sofort.
Ein sanfter Glockenton ist mehrmals zu hören, bis sich die Menschen im Saal beruhigt haben. Langsam geht der Vorgang auf. Auf dem Podium befindet sich ein kleiner Tisch mit einem Sessel davor. Auf dem Tisch steht ein Mikrofon. Von der linken Seite kommt der Mann. Er trägt noch immer die graue Stoffhose, die jetzt, durch das grelle Licht noch verbeulter wirkt, - darüber einen hellblauen Strickpullover und auch noch immer die braunen Schuhe, die nicht unbedingt geputzt aussehen. Sein faltiges Gesicht sieht wahrscheinlich älter aus, als der Mann in Wirklichkeit ist. Die meisten meinten am Bahnhof, er dürfte so um die 65, höchstens 70 Jahre alt sein.
Der Mann verneigt sich vor seinem Publikum und nimmt schließlich auf dem Sessel Platz. Er klopft kurz an das Mikrofon, um sich von seiner Funktion zu überzeugen. Das Klopfen ist im ganzen Saal zu hören. Der Mann lächelt und meint scherzhaft, das wäre eigentlich alles, was es zu sagen gäbe, - das Klopfen.
Daraufhin geht ein Raunen durch die Menge im Saal.
Der katholische Pfarrer erhebt sich als Erster und fragt den Mann, welcher Religion er angehört.
Keiner, sagt der Mann kurz angebunden.
Abermals ein Raunen in der Menge.
Wie kommen Sie dazu, sich einen Erleuchteten zu nennen, wenn sie keiner Religion angehören? fragt ein Mann aus der Menge, nachdem sich der Pfarrer mit heruntergezogenen Lippen setzte.
Vielleicht sollte ich mich einmal vorstellen, beginnt der Mann. Mein Vorname Karl Friedrich sollte Ihnen genügen. Ich bitte sogar darum, so angesprochen zu werden. Ich habe über 50 Jahre in einem Büro als Buchhalter gearbeitet und bin nun in Pension. Ich war 38 Jahre verheiratet. Meine Frau starb an Gebärmutterkrebs. Unsere Kinder, zwei an der Zahl, sind mir auch schon vorausgegangen. Der Sohn, der ältere der beiden Kinder, starb 24jährig vor meiner Frau bei einem Verkehrsunfall. Die Tochter stürzte an ihrem 20igsten Geburtstag beim Bergsteigen ab.
Ich wurde, wie es in diesen Breiten so ist, römisch katholisch getauft, bin aber schon in noch jungen Jahren aus der Kirche ausgetreten. Sozusagen lebte ich vom kirchlichen Standpunkt aus in wilder Ehe, da wir nur standesamtlich getraut wurden.
Nun stehe ich knapp vor meinem 73igsten Geburtstag und kann sagen, dass ich mein Leben gelebt habe. Die Frage, warum ich mich einen Erleuchteten nennen kann, resultiert genau daraus.
Ich bin nicht hier, um über mein Leben und über die schweren Verluste, die ich in meinem Leben hatte, zu klagen. Ich bin auch nicht hier, um irgendjemandem von Euch zu sagen, dass ich den Schmerz über die Verluste überwunden hätte. Ich trauere noch immer um meine Lieben. Selbst meine Eltern habe ich schon sehr früh verloren, - den Vater, als ich erst 12 war und die Mutter, zwei Jahre nachdem meine Frau und ich geheiratet haben.
Es mag Euch allen seltsam erscheinen, warum ich mich einen Erleuchteten nenne und doch keiner Religion angehöre. Auf den Plakaten, die ich drucken ließ, steht nichts von Religion. Ich bin ein Erleuchteter des Lebens, - nicht mehr und nicht weniger. Ich habe in meinem Leben nichts entsagt. Ich rauche
Er nimmt ein Päckchen Zigaretten aus der Hosentasche und zündet sich eine Zigarette an. Kurz darauf kommt ein Kellner und stellt ihm ein Gläschen Rotwein auf den Tisch.
und ich trinke Alkohol. Manchmal trinke ich auch über den Durst. Und ich habe in zwei verschiedenen Städten eine Freundin, bei denen ich noch immer gerne liege. Ja, trotz der Trauer, die ich für meine verstorbene Ehefrau empfinde! Warum? Weil ich dem Leben und was es zu bieten hat, nicht entsage.
Es herrscht für einige Momente Stille im Saal. Dann ein eher leises Murmeln, bis eine jüngere Frau fragt, woran Karl Friedrich glaubt.
Woran ich glaube? wiederholt er die Frage und lächelt. Im Grunde genommen glaube ich an nichts. Alles im Leben ist vergänglich. Es gibt nichts, woran ich mich festhalten kann. Würde ich glauben, müsste ich mich an etwas festhalten. Aber da gibt es nichts. Nicht einmal dieser Tisch hier.
Karl Friedrich fasst mit beiden Händen an den Tisch und rüttelt daran.