...Die grüne Wiese... rund um den Brunnen ist das Gras so weich. Ich sitze da neben dem Brunnen im Gras und horche auf sein Raunen...
...
...es ist wie ein Murmeln aus den Tiefen der Erde. Ganz tief. Ganz leise. Ich horche. Langsam, langsam erkenne ich Worte, wie ein tiefes Flüstern...
...flüstern...flüstern...
...
...Hör mich, du Wanderer... alte Geschichten weiß ich von alten Zeiten...
...murmeln...gluckern...
...
...und wieder beginnt dieses Flüstern, geheimnisvoll und doch vertraut, als hätte ich das alles schon einmal gehört. Als wäre ich der Brunnen... aber das kann ja nicht sein, ich höre ja den Brunnen... ich bin ja nicht der Brunnen...
...es flüstert, und ich weiß nicht mehr, flüstert der Brunnen jetzt unter mir oder in mir... ich horche...
...es raunt der alte Brunnen...
...
Wanderer, hör die Geschichte. Die Geschichte von dem Land in der Ferne der Zeiten, das seine Farben verlor. Ein Land hinter dem Regenbogen, so weit, so fern und doch so nah...
...Raunen...Rauschen...
...
...und wieder raunt der alte Brunnen...
...
Höre von dem Land, das Land der Klingenden Farben ward es geheißen, weil dort die Farben so rein waren und so hell strahlten, daß sie wie Musik waren, klingend und singend. So war die Luft gefüllt von von Duft und Klang in diesem Land, und alles war so schön und rein. Und voller leuchtender Blumen, die ihre Lieder sangen auf der Wiese.
...Rauschen...Rauschen...
Es geschah nun in den alten Tagen in diesem Land, daß...
...
...da seh ich einen Vogel über die Lichtung des alten Waldes fliegen und schau ihm zu, wie er da so fliegt und vergeß dabei doch den alten Brunnen ganz. Der kleine Vogel , der kleine graue Vogel flattert vor mich hin und bleibt ganz zutraulich sitzen und schaut mich an mit seinen schwarzen Augen. Er zwitschert etwas Leises, der kleine graue Vogel, das ich gern verstünde, aber ich versteh es nicht... Da flattert der kleine Vogel wieder fort, der kleine graue Vogel, und ich hör den alten Brunnen wieder raunen...
...
...langsam versteh ich wieder Worte...
...
Es ist einmal geschehen in dem Land der Klingenden Farben, daß eine große Wolke vor die Sonne gezogen ist. Wie das schon so ist bei Wolken, keiner weiß mehr, woher sie gekommen ist, diese große Wolke, aber sie ist vor die Sonne gezogen, und das Sonnenlicht, das alles so hell und klingend gemacht hat in dem Land, das ist verblaßt.
Nun ist es ja so mot den Wolken, daß sie kommen, keiner weiß, woher, und weiterziehen, keiner weiß, wohin. Aber diese Wolke nicht, diese Wolke ist geblieben vor der Sonne und immer größer und dunkler geworden, immer dunkler und bald hat sie den ganzen Himmel über dem Farbenland verdeckt...
...
...Du mußt zuhören, raunt der Brunnen... du darfst nicht versuchen, deine eigene Geschichte weiterzudenken, du mußt mir zuhören, geduldig, so wie ich geduldig all diese Geschichten erzähle. Und ich sitze da und verstehe. Ich muß horchen auf den Brunnen und nicht selber was dazusagen wollen...Das braucht eine Zeit, um das zu ölernen, sagt der Brunnen. Also hör mir zu, Wanderer...
...
...Den ganzen Himmel hat die Wolke verdeckt, groß und grau und düster. Und alle Farben sind vergangen, als wären sie nie gewesen, und all die Lieder sind verklungen, als wären sie nie gesungen worden. Und so wuchs ein graues Gras zwischen grauen Baumstämmen mit grauem Laub. Und graue Falter schwebten still über die grauen Blüten...
...Traurig standen wohl die Menschen vor ihren grauen Häusern und schauten hinaus in das graue Land. Was konnten sie tun? Es gab ja keine Hilfe, die Farben waren verschwunden, die Lieder verstummt. Still war es geworden in dem Land, und still lebten die Menschen weiter ihr graues Leben. Sie sprachen anfangs noch oft von den Farben und wie schön sie gewesen waren und wie hell und sie sprachen von den Liedern, wie froh sie geklungen hatten. Aber die Erzählungen wurden weniger, die grauen Jahre gingen dahin, und es kam eine Zeit, da konnte sich niemand in dem grauen Land mehr erinnern, wie ein Sonnenstrahl ausgesehen hatte und was bunte Farben waren und wie sie geklungen hatten. Die alten Lieder sangen sie nicht mehr. Es war still geworden, so still.
Da ergab es sich, daß ein kleines Mädchen heranwuchs in dem Grauen Land, das nicht sprechen konnte. Sie konnte nur singen was auch immer sie erzählte, es wurde ein Lied. Staunend hörten die Menschen ihr zu. Die Alten erinnerten sich an die Erzählungen der Mütter und Väter die es von ihren Großmüttern und Großvätern gehört hatten, wie das früher gewesen war mit den schönen Liedern. Und mit den bunten Farben. Und die Großmutter des kleinen Mädchens erzählte ihm von der Zeit, als noch die Farben geklungen hatten in dem einst so frohen bunten Grauen Land.
Das Mädchen hörte still zu und fragte nichts. Wohl wußte es nicht, was Farben waren aber es klangen die Namen so schön. BLAU und PURPUR und ROT und GRÜN und GELB und VIOLETT und ORANGE ...
Aurola, sprach die Großmutter, du darfst niemals vergessen, wie diese Farben heißen denn wenn du dir ihre Namen merkst, kannst du sie einst wiederfinden, wenn du groß bist, du allein denn dir sind die Lieder gegeben, und sie entschwanden zusammen mit den Farben.
Aurola schwieg über das, was ihr die Großmutter gesagt hatte, aber sie vergaß es nie. Viele Stunden verbrachte sie damit, wieder und wieder die Namen der Farben zu singen. Die Jahre vergingen, und Aurola wuchs heran zu einer jungen Frau. Die menschen des Grauen Landes schickten ihre Kinder zu ihr, damit sie ihre Lieder hörten. So saß sie einmal mit sieben Kindern vor ihrem grauen Haus im grauen Gras... und sie sang und sang alle Lieder, die sie wußte. Da sagte einer der Knaben: Aurola, sing uns ein neues Lied. Und Aurola sang die Namen der Farben, wie die Großmutter sie gelehrt hatte.
Purpurn funkelt der Rubin im Dunkel
Rot lodert das Tor zur Sonne
Orange leuchtet euch voll Freude
Gelb und schwer sind die Ähren
Grün, so grün die Blumen blühn
Blau auf die Au fällt der Tau
Violett blitzt das Gefieder der Kinnarih
Zusammen all strahlen sie im Kristall
Wie Zauber klang das Lied. Die Kinder staunten und fragten aufgeregt durcheinander. Farben, Farben. Eine leise Ahnung stieg in ihren Herzen auf. Aurola, wo sind die Farben? Wo findet man sie? wollten sie alle wissen.
Ich weiß es nicht
-sang Aurola.
Ich hab sie nie gesehen
und doch, mir ist es immer
als wüßt ich, was geschehen
und ich fände ihren Schimmer
Aurola, dann wollen wir die Farben suchen gehen, riefen die sieben Kinder.
Wollt ihr mit mir kommen
wollt ihr mit mir gehn
weit wird der Weg wohl führen
bis wir die Farben sehn
sang Aurola. Das macht uns nichts aus, sagte der größte der Knaben. Aber wo sollen wir beginnen, fragte ein Mädchen.
Wißt ihr, was ich oft gedacht
wenn ich schaute in die Nacht
ich dachte an des Berges Gipfel
höher als die höchsten Wipfel
...Du meinst den Berg, der in den Wolken verschwindet? riefen die Kinder vielleicht kann man ja auf ihn hinaufsteigen und sehen, ob es über den Wolken noch was gibt vielleicht ist er ja höher als die Wolken und wir sehen es bloß nicht, riefen die Kinder aufgeregt durcheinander.
Aurola lächelte froh. Sie sah, die Kinder hatten sie verstanden. Sie stand auf.
Kommt ihr Kinder, kommt mit mir
zu dem Berge ich euch führ
sang sie. Und so wanderte Aurola mit den drei Mädchen und den vier Knaben zu dem Berg in den Wolken...
...
...so raunte der alte Brunnen...
...und ich lernte das Horchen...noch war ja alles so neu, und manches von seinem Raunen verstand ich noch nicht...aber je länger ich horchte, desto besser verstand ich den Brunnen.
...
...Inzwischen war es Abend geworden, und ich war sehr müde, ich hatte doch einen weiten Weg hinter mir. Aber hören wollte ich die Geschichte doch, die der Brunnen mir erzählte...