Liebe Kleo
Meine Grossmutter war immer sehr rüstig. Sie hat im Alter noch Holz gehackt, den Haushalt alleine bewältig und all das. Sie war geistig sehr wach und humorvoll.
Naja, rüstig... Sie hatte Osteoporose. Die Ärzte konnten uns nicht sagen, ob ihr Oberschenkelhals beim Gehen zerbrochen ist und sie deshalb hingefallen ist oder umgekehrt.
Ich besuchte sie mit meinen kleinen Kindern im Krankenhaus, hielt sehr lange ihre Hand und sagte ihr, dass alles gut wird und sie bald heim kann. Eigentlich merkte ich genau, dass ich sie und mich bewusst anlog. Meine Tante widersprach mir und sagte, Grossmutter würde bereits mit ihrem verstorbenen Mann sprechen und ihn sehen. Ich bestand darauf, dass meine Tante Quatsch erzählt. Diese Tante fuhr schon immer enorm auf der Eso-Schiene und behauptete immer, eine vollständig rosa Aura zu haben. Ich dachte wirklich, sie wolle sich aufspielen in dem Moment.
Beim zweiten Besuch lag Grossmutter in einem anderen Zimmer. Sie reagierte nicht mehr auf uns. Ich verabschiedete mich von ihr, legte ihr die Zeichnungen der Kinder aufs Bett... Es war ein Augenblick, der mich wach machte.
Der Körper, der da lag, war nicht mehr meine Grossmutter. Sie war innerhalb von Tagen wie zerfallen. Ich hatte das Empfinden, dass ihr geschundener Körper ein enges Gefängnis war und es tat unendlich weh, sie so zu sehen. Die Schläuche... die Dünnheit ihrer Haut... die ganze Zerbrechlichkeit...
Es tat weh, sie zu verlieren, doch ich konnte das nicht ertragen. Sie tat mir so sehr leid.
Am Abend ging mein Ex an den Fluss angeln, ich begleitete ihn mit den Kindern. Während die anderen drei spielten, ging ich still dem Fluss entlang. Dann sah ich auf das Wasser; sie war an diesem Fluss geboren und auch ich.
Ich weinte endlos lange und tat dann etwas, was mir zu dem Zeitpunkt selber ungeheuerlich erschien. Ich betete wie ein kleines Kind zum lieben Gott, dass er sie zu sich nehmen möge. Dass er sie erlöse von diesem zerbrochenen Körper! Ich war überzeugt, dass sie "drüben" glücklich und frei von Schmerzen sein würde. Dennoch fühlte ich mich seltsam, für den Tod eines lieben Menschen zu beten... "Bitte lieber Gott, lass Grosi sterben!"
Am anderen Morgen, als das Telefon klingelte, wusste ich sofort was passiert war. Bevor ich den Hörer abnahm, sagte ich zu meinem Ex: "Grosi ist gestorben"...
An der Beerdigung war es, als hätte ich alle Tränen bereits geweint. Während die anderen weinten, sah ich über sie hinweg zum Flussufer. Ein unendlich friedliches Gefühl erfasste mich und ich fühlte, dass Grossmutter da war und dass es ihr wunderbar ging.
Bei meinem Vater war es ähnlich. Den Vater zu verlieren ist noch viel schlimmer, als die Grossmutter. Er war erst 65 und die Nachricht, dass er ins Krankenhaus gekommen ist, war ein furchtbarer Schock. Meine Schwester arbeitete zu der Zeit in diesem Spital und konnte ihn noch sehen. Da war er bewusstlos. Sie sagte, dass eine Notoperation möglich sei, ein sehr grosses Risiko allerdings, und dass er mit grösster Wahrscheinlichkeit nie wieder selbständig sein würde.
Ich konnte das alles gar nicht glauben, es kam so plötzlich und er war doch kerngesund! Ich war wie gelähmt und wollte ihn nicht verlieren. Die Vorstellung, dass er nicht mehr derselbe unabhängige starke Mann sein würde, war nicht zu ertragen. Ich betete von ganzem Herzen, dass er entweder wieder vollständig gesund wird oder hinübergehen darf, wenn dies nicht der Fall ist... Wir wussten alle, dass er keine lebensverlängernden Massnahmen wollte, wenn sowas passieren würde. In irgendeiner Vorahnung muss er uns das gesagt haben...
Eine Stunde später hörte ich, wie das Telefon klingelte. Ich verkroch mich tief unter die Decke, bekam mit wie mein Ex raufkam und wollte es gar nicht wissen. Vati ist auf dem Weg in den OP-Saal gestorben, bevor sie überhaupt was machen konnten.
Es war eine wirklich schlimme Zeit. Er ist vor 7,5 Jahren gegangen und während ich dies schreibe, laufen mir die Tränen übers Gesicht. Der Schmerz wird niemals vergehen... Aber ich bin sicher, dass es für Vati das Beste war! Wirklich sicher!
Ich fürchte den Moment, wo auch meine Mutter sterben wird. Auch dann werde ich zusammen brechen. Doch ich denke, dass der Mensch ein Recht auf seinen Tod hat.
Wir anderen sind es, die sie nicht gehen lassen wollen. Kleo, das ist alles andere als ein Vorwurf! Ich merke diese Verlustängste auch häufig in meinem Umfeld. Wir haben Angst vor dem Schmerz und es ist für uns unvorstellbar, dass jemand "weg" ist. Einfach "weg".
Wir kennen diese Menschen von klein auf. Sie waren immer da und wir wissen gar nichts anderes, als dass sie da sind.
Als Kind hatte ich oft Angst, wirkliche Angst, dass meine Eltern sterben! Ich war sicher, dass ich das nicht überleben würde! Es dünkte mich so unvorstellbar, ein Leben ohne sie. Schon beim Gedanken dran, begann ich zu weinen.
Das fiel mir ein, nachdem mein Vater schon eine Weile tot war. Ich merkte überrascht, dass ich ja noch lebe. Dass es unendlich traurig ist, aber dass ich nach wie vor lebe.
Manchmal denke ich, wie soll das denn sein, wenn meine Mutter auch noch weg ist?! Das geht irgendwie gar nicht! Doch, es wird gehen.
Ich habe weder Rat noch Trost für dich. Denn beides ist nicht möglich.
Vielleicht findest du in meinen Erlebnissen irgendetwas, was dich ein kleines Stückchen beruhigt. Wenn's nur ein einziges Wort ist, unter diesen vielen, dann bin ich froh