Das Buch von the_pilgrim

Die unbucklige Wildsau


In der Wildsau passierte nicht viel. Es dauerte drei Tage, aber endlich hatte Adasger sie fertig aufgeräumt und blitzsauber geschrubbt. Er hatte nichts mehr zu tun und sah sich um. Eigentlich mochte er Kneipen gar nicht. Sie waren ein geselliger Ort, aber ihn störte, dass Alkohol so ein zentraler Faktor war, denn zu oft hatte das üble Auswirkungen. Es war zwar angenehm ab und zu mal ein wenig oder auch ein wenig mehr zu trinken, aber manche konnten nicht damit umgehen, kannten ihr eigenes Maß nicht, und auf Dauer von dieser Atmosphäre umgeben zu sein, fühlte sich nicht gut an. Der ganze Raum schrie förmlich permanent 'Alkohol'. Er musste nicht lange überlegen und schnippste kurz entschlossen die Theke weg. Statt dessen schnippste er eine passend aussehende Küche herbei, robust und ohne Schnörkel, es sollte ja nicht kitschig–rustikal wirken.

Außerdem mochte er Bücher, ja, er wollte ein Bücherregal, am liebsten in der Nähe des Kamins. Er betrachtete die versteckte Sitzecke. Josh hatte bezweifelt, dass er sie jemals brauchen würde, und war sie nicht wirklich inzwischen überflüssig? Sie stammte aus einer anderen Zeit und war schon ewig nicht mehr benutzt worden. Adasger schnippste auch sie einfach weg, entfernte die Schutzmechanismen und ersetzte das Ganze durch ein gut gefülltes Bücherregal. Na, das sah doch schon viel besser aus.

Dann fiel sein Blick auf die Trophäe der Wildsau, die immer noch über der Küche hing, ohne Jörgen toter als tot. Die neue KI dazu zu ermuntern, ab und zu die Augen leuchten zu lassen, fühlte sich unpassend an. Es war an der Zeit, diese Erinnerung ebenfalls verschwinden zu lassen, das Leben ging weiter. Mögen Jörgen und das arme Tier, das als Blickfänger hatte herhalten müssen, nun in Frieden ruhen. Adasger schnippste die Trophäe weg und ersetzte sie durch eine impressionistische Skulptur aus Bronze: sie zeigte den Kopf einer durch die Wand brechenden Wildsau mit irrem Blick, vor Trotz und Lebendigkeit strotzend. Viel besser.

Er machte sich einen Kaffee, sah sich um und war vorläufig zufrieden. Noch nicht ganz ideal, aber ein guter Anfang. Er suchte im Regal nach einem passenden Buch und machte es sich auf dem Sofa bequem. Borowski lag schlafend auf Renkos T–Shirt, im Kamin prasselte – wie immer – ein Feuer.


Der Drache


Renko sah den Drachen zurückkehren und war hin und weg von dem Anblick. Als dieser wieder halb im Meer lag, sah er so aus wie vorher: nur ein Felsen, auf den die Brandung krachte. Renko hätte ihn sich gerne aus der Nähe angesehen, aber er war sich nicht sicher, ob das eine gute Idee wäre. Er sah Amanda an, aber die war immer noch geistig abwesend. Langsam fing Renko an sich zu fragen, ob er sie vielleicht mal anstubsen sollte, aber er selbst hasste es, wenn er tief in Gedanken war und dabei gestört wurde, also ließ er es bleiben.

Er sah wieder den Drachen an. Ach, warum eigentlich nicht. Renko stand auf und schlenderte langsam auf den Drachen zu. Was sollte ihm schon passieren? Feuer konnte ihm nichts anhaben. Der Drache könnte zwar angreifen und versuchen ihn zu fressen, aber notfalls könnte sich Renko einfach wegteleportieren.

Doch dazu kam es gar nicht. Als der Drache Renko sah, schnaubte er zuerst ein paar Rauchwolken in seine Richtung – und drehte sich dann auf den Rücken. Renko musste lachen, das sah wirklich einzigartig albern aus. Der Drache benahm sich wie ein Hund, der gekrault werden wollte. Moment. Wollte er das etwa wirklich? Renko trat an die Seite des Drachens und strich zögernd über die Schuppen an der Seite des Bauches. Dem Drachen schien das zu gefallen, zumindest ließ er es sich gefallen. Ganz hinauf reichte Renko nicht, dazu war er nicht groß genug. Er konnte den Puls des langsam und kräftig schlagenden Herzens fühlen. Das Gefühl, das das in Renko auslöste, war nicht in Worte zu fassen.

Aus einem Impuls heraus kletterte Renko unbeholfen auf den Drachen und stand schließlich auf seinem Bauch. Die Gischt durchnässte ihn, aber davon bekam er gar nichts mit, denn der Herzschlag des Drachens drang durch seine nackten Füße und schien durch seinen ganzen Körper zu pulsieren, ganz im Einklang mit dem Schlag seines eigenen Herzens. Das war mit nichts zu vergleichen, was Renko jemals erlebt hatte. Er stand einfach nur da, schloss die Augen und genoss das Gefühl.

Dann fing der Drache an, sich zu bewegen, ganz vorsichtig, wie es schien. Er warf Renko nicht ab, also bemühte dieser sich oben zu bleiben, indem er sich balancierend den Bewegungen anpasste. Als sich der Drache vom Rücken auf den Bauch umgedreht hatte, breitete er langsam die großen Flügel aus. Mit klopfendem Herzen setzte sich Renko auf seine Schultern. Nach zwei kräftigen Flügelschlägen, deren Bewegung Renko nach Luft schnappen ließen, erhob sich der Drache in die Luft. Sie flogen. Unfassbar. Sie flogen!
 
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Schritt für Schritt auf Umwegen


Als sich Josh und Amanda am nächsten Tag mit den Dolbs trafen, herrschte gedrückte Stimmung, aber immerhin hatten sich alle ein wenig beruhigt. Josh war mit einer vagen Idee erwacht.

„Vielleicht müssen wir uns erst mal überlegen, was wir erreichen wollen”, sagte Josh zu Amanda und bimmelte den Satz dann für die Dolbs. „Es wäre doch am sinnvollsten, wenn das Konglomerat einen guten Grund hätte, die Idee mit der Entführung aufzugeben und Amanda gar nicht erst zu suchen, oder? Wenn sie beispielsweise denken, dass ihr alle tot seid, hättet ihr eure Ruhe. Was haltet ihr davon?”

Amanda und die Dolbs waren skeptisch. Wie sollten sie das anstellen?

„Grob umrissen: ich könnte einen Schwarm erschaffen, der aussieht wie ihr”, wandte er sich an die Dolbs. „Amanda könnte so tun, als ob sie euch einfängt und an Bord ihres Shuttles bringt, damit das so abgespeichert wird. Wir müssten nur irgendwie an die Datenbank in deinem Kopf rankommen, Amanda, und die Erinnerungen an unser Treffen und die Gespräche löschen. Und dann tun wir so, als hätte das Shuttle irgendein technisches Problem und lassen es explodieren. Kurz bevor es hochgeht, teleportiere ich in einem PAL rüber und hole dich in die Wildsau.”

Amanda lachte bitter auf und schüttelte den Kopf. „Abenteuerlich, aber viel zu kompliziert. Das klappt nie im Leben, völlig unmöglich. Außerdem: Sabotage erkennen die sofort, die sind doch nicht blöd. Die Datenbank ist verschlüsselt und gesichert. Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich da leider nichts machen kann”, sagte sie frustriert.

„Könnt ihr über euer Ebenen–Gebimmel herausfinden wie man Amandas Datenbank entschlüsselt?”, fragte Josh die Dolbs.

Nein, aber das war nicht wichtig, denn sie hatten eine vollkommen andere Idee: sie wollten sich zu dem Auftraggeber durchbimmeln und versuchen herauszufinden, worum es überhaupt ging. Dazu bräuchten sie Amandas Hilfe. Sie sollte die Augen schließen und sich ihren Auftraggeber vorstellen so gut es ging.

Josh übersetzte und Amanda probierte es aus. Ja, sie sah ihn deutlich vor sich.

„Gut. Die Dolbs wollen sich einklinken, wenn du einverstanden bist. Sie werden sich dazu auf deinem Körper verteilen und bimmeln. Du sollst dich nur so gut es geht weiter auf das Bild konzentrieren, bis die Dolbs von ganz allein neben deinem Auftraggeber auftauchen. Wenn sie wieder verschwunden sind, kannst du die Augen öffnen. Den Rest kriegen sie alleine hin”, erklärte Josh ihr. „Einverstanden?”

„Ich weiß nicht. Hältst du das für eine gute Idee?”

„Keine Ahnung. Lassen wir sie doch einfach machen.”

„Wir? Du hast leicht Reden, dich wollen sie ja nicht bebimmeln, du Eule.”

„Hast du etwa Schiss?” Josh grinste.

„Pah! Quatsch. Wovor denn?” Amanda warf ihm einen finsteren Blick zu. „Na gut”, seufzte sie schließlich. „Einverstanden.”

Sie legte sich hin, schloss die Augen und stellte sich widerwillig noch einmal Gordogan Foregga vor. Sie mochte sowieso kaum jemanden, aber ihr Boss, dieser Foregga, ging ihr ganz besonders auf die Nerven. Ein arroganter Pinsel, der es sichtlich genoss seine Untergebenen herumscheuchen zu können, wie es ihm gerade in den Kram passte. Widerlich. Nun gut, egal, sie sah ihn vor ihrem geistigen Auge und wartete ab.

Sie konnte fühlen, wie sich die Dolbs überall auf ihrem Körper verteilten und sich das Bimmeln wie ein Vibrieren in ihrem Körper ausbreitete. Amanda musste sich sehr konzentrieren, um das innere Bild nicht zu verlieren, aber es gelang ihr irgendwie. Sie erinnerte sich an den Moment, als Foregga ihr in seiner gewohnt überheblichen Art und mit abschätzigem Blick ihren Auftrag erklärt hatte. Im Geiste streckte sie ihm den Mittelfinger entgegen. Grinsend lag sie im Sand und Josh fragte sich, was wohl so lustig sein mochte.

Tatsächlich sah Amanda die Dolbs neben Gordogan auftauchen. Sie verteilten sich auf seinem Körper und bimmelten dort weiter. Dann verschwanden sie gemeinsam mit Gordogan. Amanda setzte sich auf und sah Josh stirnrunzelnd an. Die Dolbs waren weg.

„Das ist absurd. Wo sind sie denn hin? Teleportieren geht hier doch angeblich nicht. Wie haben sie das gemacht?”

Josh zuckte die Schultern. „Was weiß ich”, sagte er fröhlich. „Zauberei? Ist doch unwichtig. Ich find's coool, man.”
 
Die Wahrheit über Blitze III


Fakt ist: die Auf– und Entladung von Teilen der gigantischen Energieblase über Blitze findet zwar zur gleichen Zeit, aber nicht unbedingt am gleichen Ort statt. Etwas, das an einem Ort aufgenommen wird, kann sich in der Blase aufspalten und an zwei voneinander unabhängigen Orten entladen werden.


Verzweiflung und ihre Blüten


Gordogan Foregga war nur mit großer Mühe in der Lage, seiner Arbeit auch nur ansatzweise angemessen nachzugehen. Das fiel natürlich auf. Mit jedem Tag erntete er zunehmend zweifelndere Blicke. In keinem schwang Besorgnis mit, denn er hatte es sich nicht zur Gewohnheit gemacht, sich mit seinen Untergebenen über das nötige Maß hinaus abzugeben, im Gegenteil, sie waren ganz eindeutig unter seinem gesellschaftlichen, finanziellen und intellektuellen Niveau und interessierten ihn kein bisschen. Gut so. Bis jetzt hatte es noch keiner von ihnen gewagt, ihn auf sein verändertes Verhalten anzusprechen. Anscheinend hatte sich auch noch niemand getraut, sich über ihn zu beschweren, aber wenn er sich nicht bald zusammenriss, würde es über kurz oder lang darauf hinauslaufen. Leider war ihm das unmöglich. So sehr er sich jeden Tag aufs Neue dazu zwingen wollte, er schaffte es nicht, denn er war mit den Gedanken ganz woanders.

Entgegen seiner langjährigen Gewohnheit, ließ er seit einigen Wochen pünktlich zum Feierabend alles stehen und liegen und flüchtete aus dem Büro. In seiner Führungsposition konnte er sich das eigentlich nicht leisten, und seit dem Tod seiner Frau vor fast sieben Jahren hatte er sich erst recht in die Arbeit geflüchtet wie ein Besessener. Umso stärker fiel nun es nun allen auf, dass er nicht bei der Sache war. Egal. Das ging niemanden etwas an, die sollten sich gefälligst um ihren eigenen Kram kümmern. Er tat seinen Job ja schließlich, oder? Zur Zeit nicht sehr gut, das konnte er sich selbst gegenüber zähneknirschend zugeben, aber so gut er konnte. Das musste reichen. Es gab Wichtigeres.

Wie jeden Tag in den letzten Wochen fuhr Gordogan direkt in das abgelegene, private Krankenhaus, ging die langen Gänge entlang ohne auf die prachtvollen Gärten zu achten, die um das Krankenhaus herum angelegt worden waren, und hielt vor der Tür inne, durch die er nicht gehen wollte. Und wie jeden Tag stand er zuerst einige Minuten wie gelähmt davor und konnte sich nicht überwinden. Erst, wenn er sich gewappnet genug fühlte, oder wenn jemand vom Pflegepersonal vorbei kam und ihn grüßte, schaffte er es endlich die Klinke zu drücken und einzutreten.

Der Anblick seines einzigen Sohnes, Mesoran, der leblos in den Kissen lag, war so unerträglich schmerzhaft, dass ihm täglich davor graute. Trotzdem konnte er nicht wegbleiben. Jede freie Minute verbrachte er hier und saß an Mesorans Bett – um Buße zu tun, denn Gordogan war entsetzt klar geworden, dass er alles falsch gemacht hatte. Alles. Die plötzlich über ihn hereinbrechenden Schuldgefühle waren ein eiskalter Schock gewesen. Nun lasteten sie auf ihm wie ein Berg. Sie drückten ihn zu Boden und zerquetschten ihn, bis er sich wie ein widerwärtiger Haufen Dreck fühlte. Denn das war er. Er ekelte sich vor sich selbst. Er war verantwortlich für die Umstände, die zum Tod seiner Frau geführt hatten, und daran, dass sein Sohn ein Fremder für ihn war. Ausgerechnet in der schlimmsten Phase der Pubertät und unter der Trauer über den Verlust seiner Mutter leidend hatte Mesoran ohne seinen Vater auskommen müssen, weil Gordogan lieber gearbeitet hatte statt für ihn da zu sein. Und nun lag sein erwachsener Sohn wie tot in den Kissen. Gordogan konnte nichts tun. Er konnte sich nur abgrundtief hassen und auf die Dolbs warten.

Vor ein paar Wochen war Gordogan mit Mesoran zu ihrem monatlichen Abendessen verabredet gewesen. Als Gordogan wie immer verspätet von der Arbeit gekommen war, hatte er seinen Sohn in seinem jetzigen Zustand auf dem Rasen hinter dem Haus liegend gefunden. Mit einem Aufschrei war er zu ihm gestürzt und hatte zunächst erleichtert festgestellt, dass Mesorans Herz schlug und dass er atmete. Gordogans Leibwächter waren noch im Haus gewesen – offenbar ein unfähiger Haufen, er würde sie ersetzen, sobald dieser Albtraum überstanden war – und so hatte er sie nach Hause schicken können, ohne dass sie etwas von der Katastrophe mitbekommen hatten. Er hatte ihnen gesagt, dass er sich melden würde, wenn er sie wieder bräuchte, bis dahin hätten sie bezahlten Urlaub. Das fanden sie gut, keine weiteren Fragen. Danach hatte er seinen Sohn in sein Auto getragen und klammheimlich in das beste Krankenhaus gefahren.

Die Ergebnisse der Untersuchung waren niederschmetternd. Mesoran bzw. sein Gehirn war zwar nicht tot, aber Scans zeigten keinerlei Reaktion auf Licht, Berührung oder Geräusche. Niemand wusste, wodurch dieser Zustand verursacht worden war oder was das genau zu bedeuten hatte, und daher gab es keine Kur, kein Medikament, nichts was man tun konnte. Es war auch unklar, ob sich im Laufe der Zeit an Mesorans Zustand etwas ändern würde, das würde man abwarten müssen. Gordogan hatte natürlich genug Einfluss, um die besten Spezialisten im Handumdrehen an Mesorans Bett zu beordern, aber auch das half nichts. Das Ergebnis blieb das Gleiche.
 
Die Hilflosigkeit brachte Gordogan fast um den Verstand. Da er auch bei der Arbeit an nichts anderes mehr denken konnte, hatte er wie ein Besessener recherchiert. Durch Zufall hatte er einen seltsamen Bericht über Wesen gefunden, die angeblich mit dem Unterbewusstsein kommunizieren konnten. Dolbs. Lächerlich. Der ganze Bericht war völlig absurd. Frustriert suchte Gordogan weiter, aber die Dolbs gingen ihm nicht aus dem Kopf. Schließlich hatte er sich dazu durchgerungen, sich doch näher mit den Dolbs zu beschäftigen, aber er fand keine weiteren Informationen. Der kurze Bericht war und blieb der einzige über die Dolbs. Trotz der wirklich dürftigen Informationen hatte er sich noch am gleichen Tag entschlossen, sich auf diese idiotische Sache einzulassen, einfach um überhaupt irgend etwas zu tun und nicht bloß herumzusitzen.

Gordogans Gedanken drehten sich im Kreis, während er stumm seinen Sohn anstarrte. Gerade musste er schon wieder an die merkwürdigen Dolbs denken, er sah sie quasi vor sich – sie schienen zu bimmeln. Darüber hatte er gelesen, sich bisher aber nichts darunter vorstellen können. Er fand das alles zutiefst befremdlich.

Er erinnerte sich daran, wie verzweifelt er gewesen war, als er gelesen hatte, dass er durch eine Wüste hätte reiten müssen, um zu ihnen zu gelangen, und es gab kein zuverlässiges Prozedere für die Reiseerlaubnis. Unmöglich, er konnte schließlich nicht einfach wochenlang Urlaub nehmen, aber die Berichte waren sowieso eindeutig: selbst wenn er es irgendwie möglich machen könnte, würde er den Ritt durch die Wüste nicht überleben – und Mesoran schon gar nicht. Trotzdem. Die Dolbs mussten ihm helfen. Mussten! Nun, wenn er nicht zu ihnen gelangen konnte, mussten sie eben zu ihm gebracht werden, so einfach war das. Aber wen konnte er losschicken? Wer kam dafür in Frage? Eigentlich nur ein Cyborg – und kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gedacht, wusste er auch schon, welche dieser Halbmaschinen perfekt geeignet war.

Amanda gehörte nicht zu seinem anderen Team aus Leibwächtern, er hatte sie vor ein paar Jahren zusätzlich für die Zeit engagiert, die er im Büro verbrachte. Eigentlich wäre das nicht nötig gewesen, die Sicherheitsmaßnahmen waren dort einwandfrei, aber es konnte auch nicht schaden. Sobald er Feierabend machte, hatte auch sie Feierabend, daher wusste sie rein gar nichts über ihn – und weil er sie gezielt wegen ihrer Amnesie und ihrer Zurückgezogenheit ausgewählt hatte, konnte Gordogan davon ausgehen, dass niemand sie vermissen würde. Er hatte sie zu sich gerufen und vorgegeben, sie in einem Geheimauftrag losschicken zu müssen.

Die Dolbs seien für ein sehr wichtiges Projekt nötig, hatte er ihr erklärt, es habe absolute Priorität und unterläge der höchsten Geheimhaltungsstufe. Sie müsse die Dolbs so schnell es ging einfangen und herbringen, ohne dass die Nesodoraner oder irgend jemand sonst davon erfuhr. Er hatte ihr eingeschärft, dass es absolut dringend und absolut geheim war, hatte ihr einen saftigen Bonus in Aussicht gestellt und alles Nötige veranlasst. Er hatte außerdem heimlich die Speicherfunktion ihrer Datenbank und ihren Tracker deaktiviert ohne es sie wissen zu lassen. Schließlich sollte niemand etwas von der Sache mitkriegen. Dann hatte er sie losgeschickt. Nun war es für ihn eine Frage des Wartens. Er saß wie auf glühenden Kohlen.


Auch Dämonen haben Gefühle


Der Drache flog mit Renko immer höher, bis sie die spärlichen Wolken am Himmel erreichten. Durch die Wolken zu fliegen gab dem Ganzen zusätzlich etwas Mystisches. Abwechselnd hauchzart und dann wie dicke Suppe an ihnen klebend, waberten sie um die beiden herum. Als sie daraus hervorbrachen, wurde Renko von der grellen Sonne geblendet, die über den Wolken an einem strahlend blauen Himmel hing. Nachdem sie die Wolken hinter sich gelassen hatten, konnte er jenseits davon die Landschaft sehen, die sich unter ihnen erstreckte. Berge und Meer, wunderschön.

Renko war schon in allen möglichen Fluggeräten auf den unterschiedlichsten Planeten durch die Gegend geflogen, aber frei auf einem lebendigen Drachen sitzend war es ein ganz anderes Erlebnis. Die gleichmäßigen Bewegungen der Muskeln, das Pulsieren des Herzens und der Wind auf seiner Haut gaben Renko ein intensives Gefühl von Verbundenheit und gleichzeitig von Freiheit. Es war unbeschreiblich, und je länger sie flogen, desto intensiver wurde dieses Gefühl.

Gefühlsausbrüche waren nicht Renkos Ding, aber schließlich konnte er nicht anders. Er stieß vor Begeisterung einen Schrei aus und riss die Arme in die Luft, wie Josh es gerne tat, aber das reichte irgendwie nicht, Renko wollte sich bewegen, wollte aufstehen und den Wind am ganzen Körper fühlen. So gut es ging setzte er sich zuerst auf die Knie und stand dann vorsichtig balancierend auf – zwar etwas wackelig, aber es ging, doch noch während Renko voll und ganz damit beschäftigt war nicht vom Rücken des Drachens zu fallen und all die Gefühle zu verdauen, die in ihm brodelten, sackte der Drache unter ihm weg und kreiste nach rechts.

Während Renko alarmiert feststellte, dass er nicht teleportieren konnte, beäugte ihn der Drache gelassen und drehte gemächlich ein paar Kreise um ihn herum. Schockiert schreiend und zappelnd fiel Renko ins bodenlose Nichts. Was um alles in der Hölle ... Er fiel und fiel und schrie sich die imaginäre Seele aus dem Leib. Schließlich fing der Drache Renko wieder auf als sei es das Normalste der Welt. Fassungslos, gleichzeitig überdreht und ernüchtert und mit wild klopfendem Herzen versuchte Renko sich wieder zu beruhigen.
 
You have been dolbed


Die Dolbs waren wieder aufgetaucht, zuerst als durchsichtige Schatten, dann immer deutlicher werdend, bis sie schließlich wie zuvor vor Josh und Amanda in der Luft schwebten. Nachdem sie ihren Bericht über Gordogan beendet hatten, herrschte betretenes Schweigen. Josh war der erste, der seine Sprache wiederfand.

„Das ist ja der Hammer”, sagte er. „Es gibt also keine Verschwörung, man, das ist doch gut zu wissen. Und ohne Tracker und Datenbank bist du raus aus der Nummer. Du kannst einfach abhauen.”

„Ja”, antwortete Amanda lahm, aber mehr brachte sie nicht heraus.

Schweigen.

„Freust du dich gar nicht?”, fragte Josh schließlich irritiert.

„Ehrlich gesagt, keinen Schimmer.”

„Warum nicht, was ist los?”

Amanda sah Josh lange an. Sie versuchte ihre Gedanken zu sortieren. Gar nicht so leicht.

„Also, ich konnte diesen Foregga ja von Anfang an nicht leiden. Ihm täglich dabei zusehen zu müssen, wie er sich anderen gegenüber benimmt, hat es nicht besser gemacht, im Gegenteil. Ich kann auch das Konglomerat nicht ausstehen, die ganze Gesellschaftsform geht mir gegen den Strich. Die sind doch alle komplett krank, wenn du mich fragst. Die ganze Zeit wollte ich einfach nur weg da.”

Amanda verstummte und Josh wartete.

„Aber?”, hakte er schließlich nach. Amanda ließ den Kopf hängen.

„Verdammt.”

„Aber verdammt?”

Amanda lachte kurz auf. „Ja, aber verdammt, jetzt tut er mir leid und ich will ihm helfen. Ich will, dass alles wieder gut wird. Bin ich bescheuert oder was? Er ist ein Arsch! Ein echter, riesiger Vollarsch!”

„Ach, weißte, ich denke, niemand ist grundlos ein Vollarsch.”

„Ja, na und? Hätte nicht so ziemlich jeder genug Gründe? Ob man sich deswegen benimmt wie ein Arsch, ist eine Entscheidung vor der jeder mal steht, oder etwa nicht? Er hat es jedenfalls nicht verdient, dass ich jetzt anfange Verständnis zu haben. Ich bin auch eigentlich viel zu sauer auf ihn.”

„Jepp. Eigentlich.” Josh grinste.

„Ach verdammt. Sauer zu sein war viel einfacher. Was machen wir denn jetzt?”

„Keinen Schimmer. Erst mal sacken lassen?”

Da bimmelten die Dolbs wieder. Gordogan war nur der Anfang dessen, was sie herausgefunden hatten.


You have been dragoned


Der Drache war noch eine Weile mit Renko durch die Gegend geflogen, und Renko hatte sich nach und nach tatsächlich wieder beruhigt. Nachdem sie gelandet waren, hatte sich der Drache von ihm abgewandt, sich eingerollt und wieder in die Brandung gelegt als sei nichts gewesen. Renko wollte ihm zum Abschied die Hand auf die Schuppen legen, aber es fühlte sich unpassend an, also ließ er es bleiben, drehte sich einfach um und ging in Gedanken versunken zurück zu Amanda.

Das heißt, er wollte zu ihr zurückkehren, aber verwundert stellte Renko fest, dass sie nicht mehr da war. Eigentlich gut so. Er wollte sowieso gerade lieber allein sein und das Erlebte in Ruhe verdauen. Statt sie zu suchen, legte er sich in den Sand und ließ die Geschehnisse noch einmal an seinem inneren Auge vorüber ziehen.
 
You have been mesoraned


Die Dolbs hatten mehrfach versucht Mesoran zu erreichen, aber vergeblich. Statt dessen waren sie immer wieder abwechselnd bei Renko und bei einer Elementepfütze gelandet, die reglos in einem Dschungel lag. Das konnte nur bedeuten, dass Mesorans Seele nicht mehr in seinem Körper war. Die Dolbs waren der Sache genauer auf den Grund gegangen und hatten herausgefunden, dass Mesoran von einem Blitz getroffen worden war. Der Blitz hatte ihn nicht getötet, ihm aber seine Seele entzogen.

In der Energiewolke war Mesorans Unterbewusstsein zusammen mit seinen Erinnerungen von der Seele abgespalten worden. Die Elementepfütze und Renko waren ebenfalls von Blitzen getroffen worden. Mesorans Seele war in der Elementepfütze gelandet, sein Unterbewusstsein und die Erinnerungen bei Renko. Renkos Gehirn war dafür nicht ausgelegt, und so war sein Bewusstsein auf die Ebene des Unterbewusstseins gewechselt.

„Ach du scheiße … ”, stöhnte Amanda.

„Ja, echt.” Josh schüttelte den Kopf. „Was für ein Kuddelmuddel. Wer denkt sich denn sowas aus, hömma?”

„Das ist so dämlich, dass ich jetzt am liebsten an einen Gott glauben würde, nur um ihm sagen zu können, dass er ein totaler Trottel ist.”

Josh lachte. „Der wäre eindeutig gestört. Mit zu viel Langeweile und einem sadistischen Sinn für Humor. Das habe ich schon häufiger gedacht.”

Die Dolbs bimmelten wieder und Josh bekam große Augen.

„Wow, das wäre ja echt cool, man.”

„Was denn?”

„Die Dolbs sagen, dass sie das reparieren können.”

„Ernsthaft? Super. Na, dann husch husch. Worauf warten sie noch?”

Josh grinste so breit, wie es überhaupt möglich war. „Sie sagen, dass sie Hilfe brauchen. Hast du Lust Frankenstein zu spielen?”


Langeweile I


Adasger stellte fest, dass er langsam anfing sich zu langweilen. Es war sehr angenehm gewesen eine Weile alleine in der Wildsau sein zu können, ohne Verpflichtungen und ohne ablenkende Gesellschaft. Er hatte viel gelesen oder einfach in Gedanken versunken dagesessen und das Feuer im Kamin betrachtet. Das bisschen Putzen, das in der Wildsau anfiel, war nicht der Rede wert, seit er es regelmäßig tat. Die KI verhielt sich ruhig und war kein sonderlich anregender Gesprächspartner. Hivvy brütete nach wie vor schweigend vor sich hin und wollte vor allem ihre Ruhe. Sich um Borowski zu kümmern war angenehm, aber ebenfalls keine große Herausforderung. Was sollte er also tun?

Er sah sich im Raum um. Sollte er die Wildsau wieder in eine Kneipe verwandeln? Oder vielleicht in ein Restaurant? Er könnte das 'Geschlossen'–Schild entfernen, das er bei ihrer Ankunft an die Tür gehängt hatte. Was aßen und tranken Nesodoraner eigentlich? Er beschloss, erst einmal Dasogra zu erkunden und herauszufinden, wie uninteressant es tatsächlich war und wie die Nesodoraner überhaupt tickten. Vielleicht inspirierte ihn das ja zu irgend etwas. Da er nicht wusste, ob Hunde in Dasogra willkommen waren, ließ er Borowski vorsichtshalber in der Wildsau zurück und machte sich alleine auf den Weg.


Langeweile II


Renko setzte sich auf und sah sich um. Strand, Meer und hinter ihm Berge. Keine Amanda, kein Drache. Was jetzt? Er stand auf und ging den Strand entlang. Als er genug davon hatte, ging er landeinwärts, hinauf in die Berge.


Langeweile III


Hivvy stellte fest, dass sich ihre Gedanken nun schon so lange im Kreis drehten, dass sie inzwischen richtig üble Laune hatte. Sie hatte es satt herumzuliegen, sie hatte aber auch absolut keine Lust auf etwas anderes. Also lag sie einfach weiter herum, hatte schlechte Laune und grübelte. Langsam gewöhnte sie sich daran. Es gab Schlimmeres, fand sie. Sie könnte jederzeit etwas anderes tun, sie wollte nur nicht. Genau. Sie wollte nicht, Punkt. Sie war sauer und streikte. Niemand konnte sie zwingen, eine so idiotische Entscheidung zu treffen. Dann hatte sie eben schlechte Laune. Na und? Pah!
 
Operation Frankenstein


„Wie bitte?!” Amanda sah irritiert von Josh zu den Dolbs und wieder zurück. „Spinnt ihr jetzt völlig?”

„Sowieso. Wäre ja sonst langweilig, oder? Aber es ist eigentlich gar kein großes Ding, wenn du mal drüber nachdenkst. Es war ein Wunder, dass Mesoran den Blitz überlebt hat, der ihm die Seele geklaut hat, klar, aber um sie zu ihm zurück zu schaffen, ist das nicht nötig. Es gibt Blitze, die ungefährlich sind. Hast du schon mal eine tiefe Erkenntnis gehabt? Eine, die quasi durch deinen ganzen Körper explodiert ist und dich nachhaltig erschüttert hat?

„Nein.”

„Nicht? Oh. Na, egal. Es gibt sie. Sie sind nicht gerade harmlos, aber ungefährlich. Diese Art von Blitz wird Mesoran abkriegen. Die Krawumm–Blitze brauchen wir nur für Renko und die Energiepfütze. Für die beiden ist das kein großes Ding, die können davon ja nicht sterben. Wir müssen nur dafür sorgen, dass Renko und die Energiepfütze ordentlich geblitzdingst werden. Die Dolbs können die Energie lenken, so dass alle Teile zurück in die Energiewolke gezogen werden und zusammengefügt in Mesoran landen. Voilà, alle Probleme gelöst.”

„Ok, aber ich sehe hier weit und breit kein Wölkchen. Wie soll das ohne Gewitter funktionieren?”

„Ich bin immer noch ein Dschinn, man. Ich kann hier so viel Gewitter herbei schnippsen, wie ich will. Renko wäre daher kein Problem, aber wir müssen tatsächlich zu der Elementepfütze. Die Dolbs haben übrigens herausgefunden, dass sie Hivvy heißt und eigentlich zur Wildsau gehört. Absurd, ich weiß, aber hey, alles hängt mit allem zusammen. Universelles Gesetz der Dinge und so.” Josh grinste wieder breit. „Also müssen wir uns Renko schnappen und zurück zur Wildsau gandrocken. Von da aus können wir – schwupps – in den Dschungel und dann kann's losgehen.”

„Wüste, ach ja. Ich will nicht wieder auf einem blöden Gandrock durch diese schreckliche Wüste reiten.” Amanda sah sie sich um. „Es ist so schön hier – und ich muss gar nicht weg. Wenn Foreggas Problem gelöst ist, bin ich egal. Er wird niemanden losschicken um mich zu suchen, weil er garantiert nicht riskieren will, dass jemand von dieser ganzen Sache erfährt.”

„Jepp, aber glaub mir: Idylle allein reicht nicht, man. Das ist auf Dauer nix für denkende Wesen, du wirst früher oder später durchdrehen.”

Amanda lachte. „Lass das nicht die Dolbs hören.”

„Ach, die sind hier ja nicht eingekerkert. Die können sich wegbimmeln, wann immer sie wollen.”

„Hmmm ... Stimmt.” Amanda dachte nach. „Sag mal, du brauchst mich doch gar nicht für dieses Blitz–Gedöns, oder? Lass mich ruhig hier bleiben, bis ich die Nase voll habe. Irgendwie gefällt mir die Idee.”

„Das fänd' ich schade. Was, wenn ich dir einen Job anbiete, der kein Job ist? Es wäre nicht schlecht, wenn wir in der Wildsau einen Cyborg in der Hinterhand hätten. Ach, komm schon, ich mag dich, hast du wirklich keine Lust mitzukommen? Bist du gar nicht neugierig? Wird bestimmt ein einmaliges Erlebnis. Wie oft im Leben sorgt man schon dafür, dass irgendwo gezielt ein Blitz einschlägt? Und es gibt unglaublich viele schöne Strände, an denen man rumsitzen kann.”

Amanda guckte Josh nachdenklich an. „Du magst mich?”, fragte sie skeptisch.

„Ja, sicher. Warum guckst du so seltsam?”

„Ich bin eine verdammte Maschine. Nützlich, praktisch, funktional. Ich bin bisher nicht drauf gekommen, dass mich jemand mögen könnte, glaube ich.” Amanda verdrehte die Augen und grinste dann. „Egal. Vielleicht hast du ja recht, es könnte ganz lustig werden. Gut, ich komme mit und guck mir die Wildsau an. Aber wehe, du quatschst mich in der Wüste nicht doof und dusselig, ich will Geschichten.”

„Quatschen? Ha! Das kann ich. Du wirst noch bereuen, dir das gewünscht zu haben. Versprochen!”

Nach einem letzten Picknick am Strand, begleitet vom zarten Gebimmel und Geklingel der Dolbs, beschlossen sie schließlich widerstrebend, dass es an der Zeit war aufzubrechen. Viel vorzubereiten gab es nicht. Die Dolbs versicherten, dass sie es mitkriegen würden, sobald Josh und Amanda alles für die Blitz–Aktion vorbereitet hätten. Sie riefen die trödelig umherwandernden Gandrocks herbei, Josh und Amanda bugsierten gemeinsam Renko auf eins der Geräte, und Amanda befestigte ihren Transportbehälter an einem der anderen. Dann verabschiedeten sie sich von den Dolbs und schon ging es los. Trotz angeregter Unterhaltung war der schaukelige Ritt schaukelig, der lange Weg war lang, und das alles nervte bis zum Anschlag, aber zu zweit war es wesentlich erträglicher als auf dem Hinweg.
 
Amanda war neugierig auf die Wildsau und fragte Josh Löcher in den Bauch. Er erzähle ihr alles, was er von Adasger erfahren hatte, und berichtete in allen Einzelheiten von der Abschiedsparty, aber irgendwann hatte sich dieses Thema erschöpft. Statt dessen erzählte er ihr Anekdoten von den vielen Reisen, die er mit und ohne Renko unternommen hatte, und natürlich philosophierten und stritten sie angeregt über alle möglichen Themen. Bei einem Ritt durch die Wüste bleibt so etwas nicht aus.

Sie ließen sich etwas mehr Zeit als auf dem Hinweg und machten ab und zu Pausen um etwas zu essen, aber nach knapp drei Wochen waren sie endlich, endlich, fucking damn endlich wieder zurück in Dasogra. Halleluja. Nie wieder Gandrocks! Da waren sie sich einig.


Nichts als Natur


Renko war auf dem Gipfel eines Berges angekommen. Er sah sich um. Der Berg, auf dem er stand, war nicht der höchste von allen, aber Renko konnte trotzdem sehr weit in alle Richtungen sehen. Es war ein atemberaubendes Panorama, von Zivilisation keine Spur, nicht die kleinste Hütte weit und breit. Da stand er nun, allein auf einem Berg, und fragte sich, wie er – zum Henker nochmal – an diesem Ort gelandet war, und auf welchem Planeten er sich eigentlich befand. Das ließ sich nicht feststellen, also setzte er sich hin, genoss die Aussicht und die Tatsache, dass er frei war. Frei von allem und jedem.


Die Blitzdompteure


Als Josh und Amanda die Wildsau betraten, blieb Josh wie angewurzelt stehen. Nur Amandas Cyborg–Reflexe verhinderten, dass sie gegen ihn prallte. Verwundert sah sie an ihm vorbei in den Raum. Es sah alles ganz normal aus, fand sie. Ein gut besuchtes, nesodoranisches Restaurant. Na gut, der Kellner passte nicht ins Bild, denn er war kein Nesodoraner, sah zu alt aus für den Job und war äußerst unpassend gekleidet, aber er wirkte, als sei er ganz in seinem Element.

Josh lachte und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf Adasger. „Das”, sagte er über die Schulter zu Amanda, „ist Adasger. Und das”, er machte eine ausholende Geste, „ist scheinbar die Wildsau. Sie sieht ganz anders aus als ich sie in Erinnerung hatte.”

„Josh!” Adasger freute sich und kam schnurstracks auf die beiden zugeeilt. Er nahm Josh lange in die Arme. „Wie ich sehe, hast du Besuch mitgebracht”, sagte er, als er sich wieder aus der Umarmung löste. „Wer ist das?”

„Adasger, das ist Amanda. Amanda, das ist, wie gesagt, Adasger. Ich habe Amanda in der Oase aufgegabelt. Lange Geschichte.”

„Sehr erfreut.” Adasger lächelte Amanda an und schüttelte ihr die Hand. „Kommt rein, setzt euch an den Kamin, ich bringe euch etwas zu essen. Ihr seid doch hungrig, oder?” Adasger nahm das 'Reserviert' Schild vom Tisch neben dem Sofa. „Ich werde noch eine Weile beschäftigt sein, macht es euch solange gemütlich. Was kann ich euch bringen?”

Sie einigten sich auf ein paar leckere Kleinigkeiten. Josh holte Renko, der noch vor der Tür stand, und setzte ihn in einen Sessel. Borowski, der jiffelnd um Renko herumgesprungen war, seit sie die Tür geöffnet hatten, sprang auf Renkos Schoß und versuchte ihm das Gesicht abzulecken. So ganz reichte er nicht bis nach oben. Seine hüpfenden Versuche sahen so bemitleidenswert aus – besonders weil Renko noch immer nicht darauf reagierte – dass Josh den zappelnden Hund auf den Arm nahm. „Das ist Renkos Hund, wie du dir vielleicht schon gedacht hast. Borowski, gib Pfötchen, das ist Tante Amanda. Wird höchste Zeit, dass wir das mit den Blitzen erledigen und das arme Tier von seinem Elend erlösen. Das ist ja nicht mit anzusehen, man.”

Amanda kraulte Borowski hinter den Ohren. Da sie einen beruhigenderen Einfluss auf den Hund zu haben schien, reichte Josh ihn ihr. „Da, nimm du ihn. Du kannst das viel besser als ich”, grinste er.

Sie setzten sich, und Adasger brachte ihnen die gewünschten Speisen und Getränke. Während sie aßen – Amanda mit Borowski auf dem Schoß – fing die Wildsau langsam an, sich zu leeren. Adasger hatte das 'Geschlossen'–Schild an die Tür gehängt, so dass keine neuen Gäste dazu kamen. Schließlich waren alle Nesodoraner gegangen und Adasger setzte sich zu ihnen an den Tisch.

„Wie ich sehe, hast du den Laden komplett umgekrempelt. Gar nicht wiederzuerkennen, man, gefällt mir, aber was ist aus der Selbstbedienung geworden?”, sagte Josh.

„Mir hat das Kneipen–Ambiente irgendwann nicht mehr gefallen. Als mir die Decke auf den Kopf fiel, habe ich ein nesodoranisches Restaurant draus gemacht – aber das ist doch unwichtig. Erzählt mir lieber, was passiert ist. Wie ich sehe, hat sich an Renkos Zustand nichts verändert. Legt los, was habt ihr herausgefunden? Ich will die ganze Geschichte hören.”
 
Und so erzählten sie ihm, was geschehen war. Naja, eigentlich redete nur Josh, denn es war kaum möglich, ein Wort dazwischen zu kriegen. Gelegentlich unterbrach Amanda ihn, wenn sie etwas ergänzen wollte, aber es war deutlich einfacher, ihn stumpf quasseln zu lassen.

„Und jetzt müssen wir nur noch dafür sorgen, dass Renko und Hivvy geblitzdingst werden. Dann ist alles wieder tippi–toppi, man”, schloss Josh seinen Bericht.

„Das hört sich gut an. Wann soll es losgehen?”, fragte Adasger.

Josh musste nicht lange überlegen. „Meinetwegen sofort. Was meinst du? Bist du fit genug oder willst du erst mal schlafen?”, fragte er Amanda.

„Schlafen wäre schon schön, aber ich würde das auch lieber sofort erledigen. Ich bin viel zu neugierig. Ist es weit in den Dschungel?”, fragte sie.

Josh lachte auf, schnippste mit den Fingern und zeigte auf das offene Portal. „Nö. Nicht wirklich.” Er grinste breit. „Are you ready, ma'am?” Amanda grinste zurück. „Ready indeed, sir. Lass uns Blitze domptieren gehen.”

Josh schnappten sich Renko, Amanda trug Borowski und Adasger schlenderte vergnügt hinter ihnen her. Während Josh und Amanda nach einer geeigneten Stelle suchten, an die sie Renko stellen konnten, sprach Adasger mit Hivvy und erklärte ihr die neue Lage der Dinge.

„Bist du einverstanden, dass wir dir die Entscheidung abnehmen?”, fragte er sie. Die Welle der Erleichterung, die von Hivvy ausging, war so eindeutig, dass Adasger lächeln musste. „Wunderbar, dann steht der Operation Blitzdings ja nichts mehr im Wege. Es wird gleich losgehen. Halte dich bereit.”

Inzwischen stand Renko nicht weit entfernt an einer relativ freien Stelle inmitten des Dschungels. Josh hatte ihn mit einer Art Riesenantenne ausgestattet, die als Blitzmagnet fungieren sollte. Es sah etwas albern aus, wie ein Aluhut mit einem grotesk langen Stiel. Amanda konnte sich ein Kichern nicht verkneifen, aber Renko ließ alles wie gewohnt teilnahmslos über sich ergehen. Hivvy bekam eine ähnliche Konstruktion verpasst.

Josh hatte für Amanda vorsichtshalber eine Gummirüstung herbeigeschnippst, damit sie nicht aus Versehen auch getroffen wurde. Das Metall an und in ihrem Körper war ein zu großer Anziehungspunkt. Als alles erledigt war, hatte Josh dafür gesorgt, dass sich die Energiewolke über ihrem Standort verdichtete. Es donnerte und stürmte inzwischen ohrenbetäubend. Ein paar kleinere Blitze zuckten am Himmel, aber sie waren nur glitzerndes Beiwerk und minderten den fühlbaren Druck der aufgestauten Energien kein bisschen.

„Es ist soweit, man!”, verkündete Josh schreiend. „Lasst uns in Deckung gehen, dann schnippse ich den Blitz herbei!”

Endlich waren sie bereit: Josh strahlend wie eine Diva kurz vor der Premiere, Amanda mit dem zappelnden Borowski kämpfend, Adasger vergnügt, Hivvy ungeduldig und Renko wie ein Roboter auf Standby. Es konnte losgehen.

„Bäääääm!”, schrie Josh strahlend und schnippste mit einer dramatischen Geste. Der gewaltigste Blitz, den sie je gesehen hatten, krachte auf sie hernieder, gabelte sich und fuhr wie geplant in Hivvy und Renko – und das gewünschte Equivalent hoffentlich auch in Mesoran.

Operation Blitzdings: done.
 
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You've been geblitzdingst I - Hivvy


Der Blitz fuhr in Hivvy und entzog ihr die Seele. Als sei nichts geschehen, fuhr sie damit fort den Müllberg – und auch die Antenne – zu assimilieren. Weder Erleichterung noch Irritation störten ihren inneren Frieden. Sie erinnerte sich an nichts, denn Elementepfützen haben keine Erinnerungen. Alles war normal. Sie tat die Dinge, die sie immer tat – ohne zu bemerken, dass sie sie immer tat.


You've been geblitzdingst II - Mesoran


Mesoran schlug die Augen auf und stellte fest, dass er in einem Krankenhaus lag. Er hatte merkwürdige Dinge geträumt, von Amanda, von schwebenden roten Buddhafiguren und einem unbeschreiblichen Gefühl der Freiheit – nur die Erinnerung an den Drachen fehlte. Amanda ... er seufzte. Seit Jahren war er schon unsterblich in sie verliebt. Wo sie wohl steckte? Was sie wohl gerade machte? Ein Aufschrei riss ihn aus seinen Gedanken. Sein Vater beugte sich über ihn und sah erleichtert aus – waren das etwa Tränen, die über Gordogans Gesicht liefen?

„Dad?”

„Oh mein Gott, da bist du ja wieder. Ich habe mir solche Sorgen gemacht!”

„Sorgen? Aber wieso denn? Was ist passiert, warum bin ich in einem Krankenhaus?”

Und dann ging alles den Gang, den diese Dinge üblicherweise gehen: Mesoran war verwirrt, erholte sich aber rasch. Gordogan war – für seine Verhältnisse – wie verwandelt und gab sich Mühe, ein besserer Vater zu sein. Mesoran fand das zunächst irritierend und sogar störend, gewöhnte sich aber nach und nach daran. Das Leben ging weiter. Amanda war weg und blieb verschwunden. Als Mesoran seinen Vater nach ihr fragte, zuckte dieser nur die Schultern und antwortete, dass er es nicht wisse.


You've been geblitzdingst III - Renko


Renko saß noch immer auf dem Berg und genoss die Aussicht. Er war tiefenentspannt, nicht der kleinste Gedanke ging ihm durch den Kopf. Dann tauchten die kleinen Buddhas wieder auf und klingelten niedlich vor sich hin. Renko lächelte – und zack, stand er mitten im Dschungel. Er war überrascht. Soweit er sich erinnerte, war er gerade noch mit Borowski durch den lichten Wald spaziert. Bevor er sich fragen konnte, was wohl passiert sein mochte, wurde er von einem überschwänglich bellenden und quiekenden Borowski angesprungen, dicht gefolgt von Josh, der Renko umriss und ihm dadurch die seltsame Antenne vom Kopf stieß.

Die drei rollten lachend und sich balgend auf dem Boden herum. Falls Renko sich über Joshs und Borowskis Verhalten wunderte, merkte man davon nichts. Amanda sah stirnrunzelnd Adasger an, der nur lächelnd die Schultern zuckte. „Das ist normal, fürchte ich.” Amüsiert betrachtete er das tobende Knäuel. „Ich glaube, wir sollten sie eine Weile sich selbst überlassen. Wollen wir zurück in die Wildsau gehen? Ich könnte dir ein Zimmer herbeischnippsen, wenn du möchtest.”

„Gerne. Schlafen wäre jetzt genau das Richtige”, antwortete sie dankbar.

Sie schlenderten zurück und Adasger schnippste einen leeren Raum herbei. Quasi aus Reflex erinnerte sich Amanda an ihr Bett im Konglomerat. Sie war sich dessen gar nicht bewusst und erschrak, als das Bett plötzlich im Zimmer erschien.

„Wie ich sehe, funktioniert Hivvy wieder einwandfrei”, gluckste Adasger als er Amandas Gesichtsausdruck sah. „Es sieht ganz danach aus, als seist du jetzt ein anerkannter Teil der Wildsau, sonst würde sie nicht auf deine Gedanken reagieren. Herzlich willkommen.”

Amanda wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, und schwieg verblüfft.

„Man muss mit den Gedanken hier ein wenig vorsichtig sein, sonst steht man ziemlich schnell knietief in allerlei Dingen”, fuhr Adasger fort. „Deswegen schnippsen wir. Das ist das Zeichen, dass wir das, woran wir denken, wirklich haben wollen. Wenn du das übernehmen möchtest, sag Hivvy einfach Bescheid. Du könntest statt des Schnippsens aber auch beispielsweise 'so sei es' sagen oder 'hex hex'.”

„Schnippsen ist gut. Wo ist Hivvy?”, fragte Amanda.

„Sie ist immer genau da, wo sie gebraucht wird, wir können sie nur nicht sehen. Du brauchst deinen Schnippswunsch bloß einmal laut auszusprechen und kannst dich darauf verlassen, dass sie es hört und sich daran hält.”

„Hivvy, bitte erfülle meine Wünsche nur dann, wenn ich mit den Fingern schnippse”, sagte Amanda zögernd und kam sich ziemlich albern dabei vor. „Und das funktioniert?”, fragte sie skeptisch.
 
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