Bruder

H

Hellequin

Guest
"Lebst du noch?" Ich sah ihn im Spiegel, sein Gesicht boshaft vor Entschlossenheit, seine Augen fiebrig leuchtend, seine knochigen Finger verkrallt in einen Schatten, den er unmöglich selbst werfen konnte. Wohl erwartete er Dankbarkeit dafür, dass er meine Gestalt angenommen hatte; die Gestalt seines verhassten Bruders. Dass er mich aus eigenem Antrieb besuchte, war eine unerhörte Leistung für einen Gefangenen und wies mich, Übelkeit und Furcht erregend, darauf hin, dass der Kerker ihn nicht mehr lange würde halten können. Die Gefangenen der Seele sind todlos, so lange die Seele lebt. Hunger und Einsamkeit quälen, nähren, kräftigen und formen sie, verleihen ihnen neue Gesichter und wachsende Macht über unsere Träume. Dort züchten sie Abbilder ihrer Selbst heran und schicken diese so lange in den Krieg, bis sie unsere Festen überrennen und im Namen ihrer Schöpfer unsere Throne einnehmen. In all den Jahren hatte ich niemals daran gezweifelt, dass es mir gelingen würde, diese Kreatur rechtzeitig zu reintegrieren, doch meine Zuversicht hatte mich nachlässig werden lassen und meine Trägheit hatte mich schließlich dazu getrieben, die Kerker zu vergessen. Ja, zu vergessen.

"Sei willkommen." Dass ich log, war offensichtlich. Ich hatte aufgeschrien, als er erschienen war, und zitterte nun am ganzen Körper. Der unverhohlene Genuss, den ihm diese Reaktion bereitete: eine Schraubzwinge an meiner Kehle, eine Demütigung, die im Keim erstickte, was ich in flammenden Runen hatte an den Äther richten wollen. "Ich nehme an, es ist wichtig." Grinste er? Nickte er? Ich sah nurmehr verschwommen. Irgendwo jenseits dieser Welt, in meiner unmittelbaren Umgebung, brach ein Sturm los. Lachte er, als ich fiel?

Meiner Sinne beraubt, begann ich zu ahnen. Ein schwarzer, ledriger Lemur berührte meine Stirn. Der Wachtturm überragte meine Kammer aus der Ferne, Schatten eines Märchens, das der Bruder nicht betreten konnte, weil es aus ihm bestand. Mondaugen starrten durch das Glas, so leer, dass sie Bilder aufsaugten, und ich sank gesundend in die Leere, die die Bilder hinterließen, während in meiner Kammer die Kerzen erloschen und die Glocken der benachbarten Kirche Drei schlugen. Ich ritt auf dem Geläut durch die Nacht, willenlos, aber wach. Homerisches Gelächter begleitete uns bis weit hinaus in den leeren Raum, wo – nun ungeschminkt – die Fratze meines Bruders geiferte und grinste. Ich wusste, dass Planeten um sie kreisten, als wäre sie eine Sonne. Lebendige Planeten. Bewohnte Planeten. Sie spendete weder Licht noch Wärme. Sie spendete die Not, zu existieren. Hunger sandte sie aus, der Embryonen zwang, sich durch die Leiber ihrer Mütter zu fressen, Durst, der nichts übrig ließ außer Stein und Sand, und Wahn, der am ewigen Ende Leben simulierte, das erwachte, als es lernte, sich von Lügen zu ernähren und den Schatten auszublenden, der es geschaffen hatte. Ich liebte es für eine Weile und verstieß es bald – oder hätte es verstoßen, hätte der Traum angedauert.

"Siehst du mich?" Die Magie war erloschen, die Kammer nun leer bis auf mich und den Spiegel. Die Stimme nagte psychotisch an mir und kündete, da sie nicht zu dieser Wirklichkeit gehören sollte, von einer fatalen Grenzverletzung. Nein, ich sah ihn nicht. Ich konnte ihn nicht mehr sehen. Dafür war er zu nah. "Gehen wir!" Was auch immer er vorhatte, durfte nicht geschehen. Nicht zu dieser Zeit, nicht in dieser Form, nicht durch meine Hand. Schon mehrmals hatte ich versehentlich Dinge mitgebracht, die hier nicht sein durften. Die Bannungen, die solche Eindringlinge zuverlässig fortjagten, benötigten, um wirken zu können, die Autorität des Anwenders. Grundlage dieser Autorität war und ist sogenannter wahrer Wille: Wille, der par ordre du magicien plötzlich seit jeher im Hintergrund wirkt, also unbegrenzt und bedingungslos zur Verfügung steht, insofern die nötige Frechheit gegeben ist. Da es mir daran nie gemangelt hatte, fehlte mir freilich jede Erfahrung im Umgang mit dominanten Angreifern, und obgleich ich den Bruder nurmehr als Unwohlsein wahrnahm, seit er mir den Befehl gegeben hatte, konnte ich doch ahnen, mit welch verächtlicher Heiterkeit er mich beobachtete, als ich panisch mit Fehlzündern um mich warf und schließlich, wehr- und schutzlos, beliebige Götter um Hilfe anflehte. Mühelos lud er die Atmosphäre im Raum wieder auf, zeichnete mit meiner schlotternden Hand ein Siegel in die Luft und griff nach dem Messer, um es mit meinem Blut, das nun seines war, zu öffnen.

Da war ein Wald. Gefiederte Bäume, schwarz wie Raben, ankerten mit mächtigen Schnäbeln im Erdboden, standen schweigend dicht an dicht und nur das gelegentliche Rascheln ihrer Federn zeugte von Leben, ehe Windstille einkehrte und sich schwül und drohend eine Glocke aus Erwartung auf den Wald senkte. Wir wollten die Bäume nicht berühren. Wir wollten den Brunnen erreichen, in dem sich befinden musste, was immer diese Welt schuf und speiste, doch wir wurden immer fremder und sahen uns bald im Zentrum des Waldes gefangen. Es folgte uns, wohin auch immer wir gingen. Es wurde immer enger. Als wir einen der Bäume berührten, erwachten alle. Reißzahnbewehrte Schnäbel schossen zu Dutzenden aus den Kronen, kreischten auf uns ein, schnappten nach uns. In Raserei rissen sie uns das Fleisch von den Knochen und die Knochen von der Essenz, bis wir ein Schatten waren und unsere Berührung tötete. Den Brunnen erreichten wir nie, aber ich erinnere mich an ein Labor. An schreiende, fliehende Menschen, die vor uns fielen wie die Fliegen, als wir ziellos Rache nahmen. Und an ein Heulen, das ich seit Jahren nicht mehr vernommen hatte.

Götter helfen denen, die ihnen zu Gefallen sind. Manche von ihnen sind ehrliche Dienstleister, andere sind Wucherer. Viele sind Parasiten und ersetzen das Übel, das sie bekämpfen sollen, gegen ein größeres Übel: sich selbst. Von den schwachen Momenten abgesehen, in denen ich mich nach Führung sehne, schätze ich mich bis zum heutigen Tage glücklich, noch niemals von einem Gott erhört worden zu sein, wenn ich unüberlegt flehte. Als ich in Schmerzen erwachte und man mir sagte, dass ich mit der Kraft eines Irren die Tür meiner Kammer durchbrochen, dann einige Zeit, ohne auf Zurufe zu reagieren, ausdruckslosen und fiebrig gestarrt, mich schließlich mit unbekannter Absicht in Bewegung gesetzt hatte, beide Handgelenke triefend vor Blut, und mir in diesem Moment mein eigener Hund an die Kehle gesprungen war und mich so geschickt niedergeworfen hatte, dass ich beim Aufprall das mich besetzende Bewusstsein verloren hatte, war ich allerdings geneigt, jenen Freund zu vergöttern, der allein dafür verantwortlich zeichnen konnte.

Nach meiner Entlassung kehrte ich in den Wald zurück und fand ihn ergraut, als bestünde er aus Staub. Die Bäume lebten nicht mehr. Schlaksige Faultiere, grau wie der Wald, krochen auf ihnen herum, saugten an ihnen. Sie raunten mir den Weg zu den Überresten des Brunnens zu, wo ich fand, wonach wir damals gesucht hatten. Ich musste mich zwingen, den Blick abzuwenden, als es binnen Sekunden nach mir griff, um mir sein Zeichen in die Seele zu ritzen. Bis zum Ausgang zerrte es an mir, ein kalter und glatter Aufhocker, ausgespuckt vom Abyss oder einem seiner sich unerkannt durch so viele vorgeblich sichere Lande ziehenden Ausläufer. Das Spiegelglas muss es schließlich abgeschnitten haben, denn vom Zeitpunkt meines Übertritts an fühlte ich seinen Griff nicht mehr. Wahrscheinlich wird es wieder im Wald liegen und lichte Stellen in die toten Kronen starren, unbeachtet selbst von den in diesen Regionen so aufdringlichen Sternen. Sein Wille durchdringt, worauf immer er trifft, doch nicht alle Welten sind bereit, von ihm Gespeistes zu tragen; darunter, zumindest für den Augenblick, auch meine.

"Lebst du noch?" Ja, ich lebe noch, Bruder. Du hast nicht gefunden, was du suchtest, und du warst nicht dabei, als es mich fand. Es mag aussehen, als sei ich ihm entkommen, doch der Schnitt – ich ahne es – war ungenau. Nichts von ihm ist mit mir gekommen. Ich bin nicht mehr ganz. Während ich zu dir spreche, mag beim zerfallenen Brunnen auch ein Teil von mir in die Ferne starren und nach mir suchen; nach uns. Du weißt nicht, wogegen du in deinem bröckelnden Kerker Rachepläne schmiedest. Du denkst, du hättest mich durchschaut, als ich zu neugierig nach dir Ausschau hielt, doch in Wahrheit bist du es, der einen Schritt zu weit gegangen ist. Als du zu tief in meine Welt vordrangst, bemerkte sie dich und erinnerte sich deiner. Auch du, mein Bruder, lebst nun noch. Du und ich, wir leben noch, und wir haben deine Fährte aufgenommen. Noch magst du dich durch meine Wunden graben, mich auslaugen und mir den Willen eingeben, zu erlöschen. Wer weiß, vielleicht wirst du siegen, doch was auch immer geschehen mag: Am Ende werden wir dich finden.
 
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