Aktive Meditation
Setzt man sich mit geschlossenen Augen hin, um das mentale Schweigen herzustellen, wird man zunächst von einem Schwall von Gedanken überschwemmt - sie kommen unvermutet wie aufgeschreckte oder angriffslustige Ratten überall zum Vorschein. Es gibt hier keine neunundneunzigundeine Methoden, diesem verwirrenden Aufstand ein Ende zu bereiten, sondern nur einen einzigen Weg: es immer und immer wieder geduldig und hartnäckig zu versuchen, und vor allem niemals dabei den Fehler zu machen, gedanklich mit dem Denken zu kämpfen - unsere Aufmerksamkeit muß verlagert werden. Jeder von uns trägt jenseits des Verstandes oder tief in sich ein Bestreben, eine Aspiration, genau das nämlich, was uns auf den Weg gebracht hat: eine Sehnsucht unseres eigentlichen Wesens, eine Parole, ein Losungswort, das nur für uns eine besondere Bedeutung hat. Wenn wir uns daran halten, läßt sich die Aufgabe leichter bewältigen, denn anstelle einer negativen nehmen wir eine positive Haltung ein - und je häufiger wir unsere Losung wiederholen, desto machtvoller wird sie. Für manche mag es ein Bild sein wie das eines unermeßlichen Ozeans, dessen Oberfläche nicht der leiseste Windhauch trübt. Man schwimmt darauf, treibt dahin, wird zu dieser ruhigen Unermeßlichkeit. So erlernen wir nicht nur das Schweigen sondern auch die Ausweitung des Bewußtseins.
Das Herabkommen der Kraft
Nach und nach füllt sich die Leere. Man macht eine Reihe von Beobachtungen und Erfahrungen von erheblicher Bedeutung. Es wäre falsch, diese in logischer Reihenfolge vorzustellen, denn in dem Augenblick, in dem man die alte Welt verläßt, stellt man fest, daß alles möglich ist, und darüber hinaus, daß es niemals auch nur zwei vollkommen übereinstimmende Fälle gibt - hier liegt der Fehler aller spirituellen Dogmatismen. Wir können also nur einige Grundlinien der Erfahrung andeuten.
Ist der Verstand einmal verhältnismäßig ruhig gestellt, wenn nicht sogar ganz zum Schweigen gebracht, und unser Bestreben oder unser Bedarf gewachsen, gefestigt und brennend wie ein unstillbarer Durst, so trifft man auf ein Phänomen, das für den weiteren Yoga unabsehbare Konsequenzen haben wird. Man spürt um den Kopf und besonders in der Gegend des Nackens etwas wie einen ungewohnten Druck, der einem den Eindruck falscher Kopfschmerzen vermitteln kann. Anfangs ist das schwer auszuhalten, man schüttelt und lockert sich, lenkt sich ab, "denkt an etwas anderes". Allmählich nimmt der Druck eine bestimmtere Form an, und man spürt geradezu einen herabkommenden Strom - einen Kraftstrom, nicht wie ein unangenehmer elektrischer Strom, sondern wie ein massiver Fluß. Damit wird klar, daß der "Druck", die falschen Kopfschmerzen, die man zu Beginn verspürte, einfach durch den Widerstand entstehen, den man der herabkommenden Kraft entgegensetzt. Einzige Abhilfe bietet es, den Fluß nicht zu blockieren, das heißt, den Strom nicht schon im Gehirn aufzuhalten, sondern ihn von Kopf bis Fuß durch alle Schichten des eigenen Wesens passieren zu lassen. Der Strom ist zunächst sprunghaft und unregelmäßig; eine gewisse Anstrengung des Bewußtseins ist erforderlich, um bei seinem Verschwinden die Verbindung wiederherstellen zu können. Doch nach einiger Zeit fließt der Strom stetig und von allein; man hat sich an ihn gewöhnt. Er gibt einem das sehr angenehme Gefühl einer frischen Energie, gleich einem zweiten Atem, weitreichender und umfassender allerdings als der unserer Lungen, er umgibt uns, badet uns, erleichtert uns und erfüllt uns zugleich mit Festigkeit. Die physische Wirkung entspricht ziemlich genau der, die man verspürt, wenn man mit dem Wind läuft. Eigentlich bemerkt man die Wirkung erst gar nicht, denn sie kommt stufenweise, in kleiner Dosierung. Erst wenn man sich aus dem einen oder anderen Grunde von dem Strom abtrennt, sei es aus Versehen, weil man sich ablenken läßt oder aus Übermüdung nach einem Exzeß, dann fühlt man sich schlagartig eingeengt und leer, als leide man an plötzlicher Atemnot gepaart mit dem sehr unangenehmen Eindruck physischer Verhärtung: gleich einem alten Apfel, aus dem man allen Saft und Sonnenschein herausgepreßt hat. Und man fragt sich, wie man vorher ohne das leben konnte. Hiermit haben wir eine erste Umwandlung unserer Energien erreicht. Anstatt aus der gewohnten Quelle zu schöpfen, also von unten oder von den universellen Lebenskräften um uns herum, schöpft man von oben. Und dabei handelt es sich um eine viel klarere und anhaltendere Energie, ohne Brüche und mit einem erheblich höheren Maß an Dynamik. Im Alltag - inmitten aller Arbeit und den tausend Dingen, die zu erledigen sind - hat der Kraftstrom zunächst eine ziemlich abgeschwächte Wirkung. In dem Augenblick aber, in dem wir innehalten und uns zu konzentrieren beginnen, durchströmt uns eine massive Flut. Alles kommt zum Stillstand. Man wird gleich einem bis zum Rand gefüllten Gefäß davon voll. Wenn der Körper gleichsam von Kopf bis Fuß durch eine Masse an Energie aufgeladen wird, die sowohl von großer Dichte als auch von kristalliner Klarheit ist, verschwindet selbst der Eindruck des "Stroms" (ein fester, kühler Block Frieden 9 heißt es bei Sri Aurobindo); und wenn sich unsere innere Sicht zu öffnen beginnt, finden wir alles in einen Hauch von Blau getaucht. Man gleicht einem Aquamarin und ist weit, so weit - ruhig, ohne das kleinste Kräuseln, die kleinste Welle. Und diese unbeschreiblich erquickende Frische! Man badet wahrhaftig direkt an der Quelle. Denn diese "herabkommende Kraft" ist die eigentliche Kraft des Geistes - Shakti. Spirituelle Kraft ist nicht nur ein Wort. Und schließlich ist es nicht mehr nötig, die Augen zu schließen und sich von der Oberfläche zurückzuziehen, um sie zu spüren; sie wird in jedem Augenblick des Lebens gegenwärtig, in jeder Sekunde, gleich, was man tut, ob man ißt, ob man liest, ob man spricht; und man wird sehen, daß sich ihre Intensität in dem Maße steigert, in dem sich unser Organismus an sie gewöhnt; tatsächlich handelt es sich um eine ungeheure Masse an Energie, die durch nichts beschränkt wird als durch die Begrenztheit unserer Aufnahmefähigkeit.
(Aurobindo)