Beim Blättern in den Bildern meines Lebens

L

Lincoln

Guest
Das erste Mädchen

Beim Blättern in den Bildern meines Lebens,
sehe ich dich heut noch vor mir stehn,
zusammen kamen wir beide vergebens,
denn früh schon musste ich von dir gehn,
und doch warst du stets immer in Gedanken
bei mir und das blieb bis heute so,
manchmal denke ich an all die Schranken
des Alters und werd dabei nicht froh.

Wir waren damals viel zu kleine Kinder,
du warst sieben und ich grade vier,
und wie denke ich an den schönen Winter,
solchen gibt es heute nicht mehr hier,
deine Oma machte wunderbaren Kakao
und lächelte uns beide fröhlich an,
ja, sie war eine bermerkenswerte Frau,
der ich echt nicht genug danken kann.

Ohne sie hätte es sie nicht gegeben,
diese schöne Zeit für dich und für mich,
das sind solche Bilder aus meinem Leben,
die mich tragen und sprechen für sich,
und den ersten Rharbarbar mit Zucker
aßen wir beide mit Vergnügen alsbald,
wir gingen mit leicht ängstlichem Ducker
gemeinsam in den tiefen dunklen Wald.

Wie Hänsel und Grethel angekommen
besiegten wir stärkend unsre Furcht,
bis wir heile und etwas benommen
heimkehrten, und gemeinsam durch
die mahnende Schimpfe erstarkten,
und die Pfade, auf denen wir spazierten,
vorbei an Autos, die irgendwo parkten,
merkten wir, dass unsre Herzen vibrierten.

Danach ging ich sehr lange Zeit,
nicht wieder mit wem Hand in Hand,
erst vierzehn Jahre später war es so weit
als die erste Freundin mich zögernd verband.
 
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Der schwarze Mann

Beim Blättern in den Bildern meines Lebens,
verharre ich vor jenem schwarzen Mann,
ihn wiedersehen blieb für mich vergebens,
ist so etwas, das ich nicht verstehen kann,
er war so gütig und so voller Liebe,
die Geschichten um ihn waren gar nicht wahr,
warum bekommen Schwarze so viel Hiebe,
in diesem Thema bleibt vieles unklar.

Einmal pro Jahr kam er zu diesem Feste,
das in unsrer Gegend Stünzel hieß,
von der ganzen Welt hatte er das beste
Eis, von dem er mich oft kosten ließ,
und ich brauchte nie etwas bezahlen,
weil ich kleine Dinge für ihn tat,
sah sein Gesicht in Freude strahlen,
wenn er mich um Kleinigkeiten bat.

Drei, vielleicht vier mal hab ich ihn gesehn,
und doch bleibt die Erinnerung intensiv,
es sind so die kleinen Wunder, die geschehn,
die man nicht mit Gebeten herbei rief,
das Abenteuer auf dem Mississippi,
Onkel Toms Hütte oder die Bill Cosby Show,
Magnum, Das A Team oder sonst irgendwie
eine andre Sendung, ließ mich fragen, wo.

Und dann, wenn Opa mit mir hinfuhr,
morgens sehr früh mit seinem Trecker,
zeigte ich ihm hetzend und ziemlich stur,
waren auch andre Sachen ziemlich lecker,
als erstes den Ort, wo es mich drängend hinzog,
zum Eiswagen mit dem fremden schwarzen Mann,
und er lachte schon als ich um die Ecke bog,
wie es nur ein Mensch mit gutem Herzen kann.

Sanobub stand auf seinem Wagen
die Sahne war Güte erster Klassen,
nie kam ein bessres in meinen Magen,
wieso tun viele die Schwarzen hassen.
 
Der fremde Großvater

Beim Blättern in den Bildern meines Lebens,
empfinde ich zwei Wochen Paradies,
bis dahin machte ich nicht viel Aufhebens,
von Urlaub, der mir nie etwas verhieß,
doch in jenen Tagen lernt ich fühlen,
was es heißt, herzlich willkommen zu sein,
diesmal gab es kein zwischen den Stühlen,
und erstmals war ich wirklich nicht allein.

Die Patentante rief mich, ich kam gerne,
doch hatte sie wie immer viel zu tun,
dann führte ich den Hund raus in die Ferne,
um anschließend bis abends auszuruhn,
nur diesmal führten uns die Gassipfade
auf einen bisher unbekannten Weg,
Schreber ähnlich grüne Garten Häuserlade,
durch Hecken abgeschirmt wie ein Versteck.

Da kam ein Junge durch ne kleine Türe,
und fragte mich, ob ich wohl durstig sei,
wer schwört bei so ner Frage tausend Schwüre,
ich sagte ja, und da führte er uns rein,
der fremde Großvater saß im leichten Schatten,
er lächelte und grüßte, kannst du Schach,
welch ein Spaß wir an diesem Tage hatten,
darüber denk ich heut noch manchmal nach.

Nun kam ich täglich in diesen beiden Wochen,
bis der Abschied mir fast das Herz gebrach,
das ich spürte noch lange danach pochen,
denn zu Hause wartet nur Schimpf und Krach,
Jahre später fuhr ich ganz allein nach Northeim,
doch finden konnte ich nur meine Tränen,
keinen Enkel, keinen Großvater, auch kein Gartenheim,
das Paradies verloren, blieb mir nur zu wähnen.

Ich konnte nichts finden, nicht die Straße, wo es war,
so oft ich mich auch ablaufend im Kreise drehte,
tief bedrückt und voller Traurigkeit, die ich gebar,
lief ich davon, zu Fuß, wohin der Wind mich wehte.
 
Das andere Fenster

Beim Blättern in den Bildern meines Lebens,
da fällt mir jene alte Dame ein,
sie war der Ursprung, dass ich es erstrebens
wert fand, oft im Altenheim zu sein,
das andere Fenster gegenüber,
links, mit dem Blumen beschmückten Balkon,
ließ mich oft blicken hinüber,
zu Anfang ahnte ich noch nichts davon.

Reinhard Mey hat den Text zum Lied geschrieben,
die Gruppe Pur hat es gesungen irgendwann,
doch die Erinnerung ist schon Jahre zuvor in mir geblieben,
und ich fands schön als ich es hörte dann,
der kleine Bub am Fenster schaute hinüber,
bis er sie sah und dann zur Schule ging,
und auch sie schaute lächelnd zu ihm herüber,
ihm war nicht klar, wie sehr er an ihr hing.

Eines Tages war sie plötzlich verschwunden,
ich suchte sie und fand sie nirgendwo,
wo sie wohnte, drehte wer anders seine Runden,
Gefühl von Schmerz, ich fühlte mich nicht wohl,
doch noch unschuldig, vom Wissen, was der Tod bedeutet,
nahm ich an, sie wäre umgezogen, abgereist,
Jahre später, nachdem ich mich gehäutet,
begriff ich langsam, wer die Dame einst verspeist.

Noch jetzt seh ich ihr Gesicht, kann es nicht vergessen,
sie war die erste fremde Oma, die mich in die Arme nahm,
als sie starb, muss ich so sieben Jahre alt gewesen
sein, und sie freute sich immer, wenn ich zu ihr kam,
verdammt, wie hab ich sie geliebt ohne es zu wissen,
und selbst heute sehne ich mich stark nach ihr,
manche Erinnerungen sind zugleich schön und beschissen,
doch ich weiß, irgendwann bin auch ich nicht mehr hier.

Direkt gegenüber war jenes noch damals ursprüngliche Altenheim,
wenn wir uns anblickten, war der Weg nach rechts diagonal,
für mich war dieses Haus so etwas wie ein gewisses Daheim,
denn wo ich selbst wohnte, war es trotz Oma und Opa, ein Stall.
 
Die einsame Bäuerin

Beim Blättern in den Bildern meines Lebens,
da komme ich an ihr nicht vorbei,
sie war ein Teil des Grundsteins meines Wesens,
denn bei ihr fühlte ich mich erstmals frei,
zu Hause scheute ich sehr oft die Arbeit,
die von Zwang, Druck und Gewalt war geprägt,
bei ihr jedoch, da half ich gern von Zeit zu Zeit,
das meiste Holz hab ich bei ihr gehackt, gesägt.

Ihr Haus befand sich mitten im Orte,
ob rechts, ob links, ich kam immer dran vorbei,
als Mensch war sie von einer anderen Sorte,
mit ihr lebten dort nur noch zwei,
ihre Mutter und auch deren Schwester,
die beide längst von Krankheit gezerrt,
ich fühlte mich oft als ihr Orchester,
wenn ich mit den Dreien hab Lieder geplärrt.

Die einsame Bäuerin werd ich nie vergessen,
sie hatte ein Herz für daheim gequälte Kinder,
sie war mit uns auf den Feldern, hat mit uns gegessen,
und wir saßen bei ihr, auch im kalten Winter,
ob sie sich nach einem Manne sehnte, erfuhren wir nie,
doch waren wir sehr froh, dass es dort keinen gab,
ob wir Schlitten fuhren oder manchmal Ski,
sie war die Wärme, die ich im Herzen hab.

Ich kannte nur rote und schwarze Johannisbeeren,
doch in ihrem urwaldähnlichen Garten fand ich gelbe,
dies zeigte mir, man soll sich nicht um Schablonen scheren,
es gab jedoch keinen Hund, nicht mal ein Welpe,
dafür jedoch eine ganze Menge Katzen,
selbst an Weihnachten war ich in ihrem Hause,
sie backte schöne Kekse und auch Tatzen,
und bescherte uns eine selbstgemachte Brause.

Wie gern kehrte ich bei der einsamen Bäuerin ein,
wie gern half ich ihr bei allem, was ich konnte,
so frei wie bei ihr, konnte es zu Haus nie sein,
manchmal schien es, als wenn ich bei ihr wohnte.
 
Der einzige Lichtblick

Beim Blättern in den Bildern meines Lebens,
gehe ich noch einmal weit zurück,
die mütterliche Seite blieb vergebens,
jeder Schritt dahin war ohne Glück,
und dennoch gab es eine aus der Sippe,
die ich noch heut in meinem Herzen trag,
sie war, stand doch so vieles auf der Kippe,
der einzige Lichtblick, den ich mag.

Die Wahlverwandtschaften hab ich gelesen,
die Goethe damals sinnlich niederschrieb,
so bleibt ihr Name doppelt unvergessen,
Uroma hatte ich wirklich lieb,
und heute nach gut fünfunddreißig Jahren,
während ich die Zeilen hier besinn,
lohnt es nicht, an jenen Ort zu fahren,
denn sie war der einzige Gewinn.

Und Urgroßmutter ist schon längst im Himmel,
mir genügt, zu wissen, wie sie war,
wie Storms Reiter auf dem weißen Schimmel,
fühl ich die Erinnrung sogar,
den letzten Tag als ich bei ihr gewesen,
bevor es Kaffee und Kuchen gab,
in ihrer Aura konnte ich genesen,
dies Bild zeigt mir, was ich an ihr hab.

Ist diese Zeit auch ewiglich verklungen,
die Trübsal dieser Jahre vorbei,
und hab ich auch so manches schon besungen,
bleibt einiges mir wohl einerlei,
doch Uroma, sie musste ich erzählen,
in der Kälte war sie Sonnenschein,
gibt es im Leben nicht viel zu wählen,
lass das Gute ins Herz hinein.

Wie jung ich war und wie alt die Erinnerung ist,
wie wehmütig die Traurigkeit mich überkommt,
wenn Kurzes so viel Gegenwartskraft misst,
oh ja, Uroma brächte fertig, dass mich was frommt.
 
Lieber @Lincoln :)

Sehr sehr nahegehend, ergreifend und voller Tiefe und menschlicher Berührung
auf Herzensebene aus dem richtigen Leben erzählt.

Eine wirklich wunderreiche Beziehung, du da mit deiner Uroma hattest, die dir Licht
in dunklen Stunden war. Wenn man das am Ende eines Lebens von sich selbst auch
mal sagen kann...das man Jemandem ein Licht war ....

Ich bin der Meinung, dass unsere Lieben uns nicht verlassen - sondern noch
bei uns und um uns sind (besonders auch in der Not) und ich bin mir sicher,
dass du hiermit deiner Uroma ein riesengrosses Geschenk gemacht hast,
das sie sehr erfreut.

Das letzte Hemd hat keine Taschen - aber die Liebe im Herzen nehmen wir
mit - und ihre Liebe zu dir, hat wirklich Grosses vollbracht - wie ich hier
lesen und finden konnte.

Lincoln - ich bin wirklich sehr beeindruckt von der Seite, die du uns hier
zeigst. Und um die Grösse und den Wert eines anderen Menschen - wie
deiner Uroma- Menschen zu erkennen und so detailliert beschreiben zu
können, muss man diese Grösse auch erst mal selbst in sich tragen.

Sie wäre (ist) sicher sehr stolz auf dich - sie hat dich und deinen Kern schon
sehr früh erkannt, genährt und gefördert. Was auch zeigt, dass alte Menschen
bis zuletzt Wertvolles zu geben haben.

Eine schöne Adventsszeit wünsche ich dir noch

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Der einzige Lichtblick

Beim Blättern in den Bildern meines Lebens,
gehe ich noch einmal weit zurück,
die mütterliche Seite blieb vergebens,
jeder Schritt dahin war ohne Glück,
und dennoch gab es eine aus der Sippe,
die ich noch heut in meinem Herzen trag,
sie war, stand doch so vieles auf der Kippe,
der einzige Lichtblick, den ich mag.

Die Wahlverwandtschaften hab ich gelesen,
die Goethe damals sinnlich niederschrieb,
so bleibt ihr Name doppelt unvergessen,
Uroma hatte ich wirklich lieb,
und heute nach gut fünfunddreißig Jahren,
während ich die Zeilen hier besinn,
lohnt es nicht, an jenen Ort zu fahren,
denn sie war der einzige Gewinn.

Und Urgroßmutter ist schon längst im Himmel,
mir genügt, zu wissen, wie sie war,
wie Storms Reiter auf dem weißen Schimmel,
fühl ich die Erinnrung sogar,
den letzten Tag als ich bei ihr gewesen,
bevor es Kaffee und Kuchen gab,
in ihrer Aura konnte ich genesen,
dies Bild zeigt mir, was ich an ihr hab.

Ist diese Zeit auch ewiglich verklungen,
die Trübsal dieser Jahre vorbei,
und hab ich auch so manches schon besungen,
bleibt einiges mir wohl einerlei,
doch Uroma, sie musste ich erzählen,
in der Kälte war sie Sonnenschein,
gibt es im Leben nicht viel zu wählen,
lass das Gute ins Herz hinein.

Wie jung ich war und wie alt die Erinnerung ist,
wie wehmütig die Traurigkeit mich überkommt,
wenn Kurzes so viel Gegenwartskraft misst,
oh ja, Uroma brächte fertig, dass mich was frommt.

@Lincoln
Einfach wirklich nahegehend und erwärmend nahegebracht.

Ich habe so etwas mit meinem Opa erlebt - weiss nicht, was ich
gemacht hätte oder was aus mir geworden wäre, wenn es ihn für
mich nicht gegeben hätte. Habe mich da mal wieder dankbar dran
erinnert -dank dir-.
 
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