Baum der Erkenntnis

9.) Episode

Sabine läutet an Anitas Wohnungstür.
„Wer ist da?“ tönt es von drinnen.
„Ich bin’s, Sabine!“
Anita öffnet zögernd die Tür.
„Keine Angst, ich bin es wirklich, Anita“, begrüßt Sabine ihre Freundin und betritt die kleine Wohnung, die aus zwei Zimmern, eines mit Kochnische, einem Badezimmer und einem WC besteht.
„Setz dich“, sagt Anita und deutet auf die Couch, die vor dem kleinen Fenster steht und liebevoll mit einer selbstgestickten Decke belegt ist.
Anita setzt sich Sabine gegenüber auf einen Fauteuil, der ziemlich abgenutzt aussieht. Zwischen den beiden steht ein kleiner Couchtisch, mit einem Aschenbecher und zwei Gläsern, samt einer Flasche Rotwein darauf.
„Was ist heute passiert?“ fragt Sabine, während Anita die beiden Gläser mit Rotwein füllt.
„Ich habe eine alte Bekannte getroffen, die anscheinend etwas über die Trennung zwischen Hans und mir weiß. Im ersten Moment wusste ich nicht, was ich sagen soll. Das erstbeste, was mir einfiel, war, ihr zu sagen, dass ich Alkoholikerin bin. Es könnte ja sein, dass sie auch etwas über meine Besuche beim Psychiater weiß.“
Sabine schüttelt den Kopf.
„Dann dürfte sie uns jetzt nicht sehen, wo wir beide Alkohol trinken.“
Anita lächelt.
„Ich hoffe doch nicht, dass sie mir einen Spion angehängt hat, als sie mir ihre Hand gab.“
„Schau lieber bei deinem Mantel nach, ob so ein kleines, schwarzes Ding daran befestigt ist“, meint Sabine ernst.
„Das habe ich schon. Es war nichts dran, - auch nicht an meiner Tasche.“
„Du hast ihr wirklich gesagt, dass du Alkoholikerin bist?“ fragt Sabine nach.
„Mir fiel nichts Besseres ein. Als ich sie sah, spürte ich sofort, dass sie etwas wusste. Und als sie mir die Hand gab, sah ich die Bilder um ihren Kopf, - die Trennung zwischen Hans und mir, und auch, dass die Kinder bei Hans standen. Was hätte ich ihr denn sagen sollen? Etwa, dass ich mich mit einem Egonier getroffen habe und bei einer ihrer Meditationssitzungen war? Wie ich diese Frau kenne, hätte sie mich sofort bei den Behörden gemeldet und die satte Prämie dafür kassiert. Du weißt doch, was auf dem Spiel steht, wenn man sich religiös mit anderen galaktischen Völkern einlässt. Das ist strengstens verboten.“
„Und das mit Recht, wie man bei dir sehen kann“, sagt Sabine vorwurfsvoll.
„Ich dachte ja gar nicht daran, dass es bei Menschen wirkt. Und mich interessieren andere Religionen nun mal.“
„Sie interessieren mich genauso, aber ich würde mich nie darauf einlassen, bei einer der religiösen Sitzungen von anderen galaktischen Völkern dabei zu sein, - und schon gar nicht bei einer der Egonier.“
„Vielleicht hätte ich sie belügen sollen, - ihr sagen sollen, dass alles nur ein Gerücht ist und sie darauf ansprechen sollen, dass sie selbst Dreck am Stecken hat. Ihr Sohn sitzt nämlich im Gefängnis, weil er mit galaktischen Drogen gedealt hat.“
„Das wäre auch eine Möglichkeit gewesen“, sagt Sabine und stößt mit ihrer Freundin an.
„Aber das liegt mir nicht mehr. Früher hätte ich es vielleicht getan, aber seit dieser Erfahrung kann ich einfach nicht mehr auf diese Art lügen. Ich kann schwindeln, was ich ja getan habe, aber leugnen und etwas ganz vom Tisch wischen, das geht nicht mehr. Bald wird ich nicht einmal das mehr können und werde die ganze Wahrheit sagen müssen, wenn der egonische Geist ganz auf mich übergegangen ist.“
„Was war deine erste Reaktion, als du spürtest, dass sie etwas weiß?“ fragt Sabine.
„Irgendwie war ich wütend, weil ich ausgerechnet ihr über den Weg laufe.“
„Dann hättest du ihr das sagen müssen.“
„Daran dachte ich auch, aber selbst so etwas liegt mir nicht mehr, weil ich andere nicht mehr verletzten kann.“
„Du sitzt heftig in der Scheiße, wenn ich das mal so sagen darf“, meint Sabine und nippt an ihrem Glas.
„Ich werde auswandern“, sagt Anita.
„Was?!“
„Ja, ich werde auf den Planeten der Egonier ziehen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Ich bin nicht mehr fähig, hier zu leben, weil mir alles immer fremder wird. Du bist die Einzige, mit der ich noch kommunizieren kann. Als gestern Abend Hans mit den Kindern vorbei kam, hatte ich das Gefühl, die Decke fällt mir auf den Kopf, und das wortwörtlich. Ich blickte stets nach oben und sah, wie die Decke immer näher kam. Dann musste ich meinen Blick abwenden, sonst wäre es wirklich passiert. Einen Augenblick länger, und sie wäre auf uns alle gekracht.“
„Du meine Güte, dann stimmt es wirklich!“ ruft Sabine aus.
„Ja, es stimmt, - wir Menschen haben die Fähigkeit, alles, was wir uns vorstellen, Wirklichkeit werden zu lassen. Das ist die Gabe der Fantasie. Nur wenn wir in unserem Bewusstsein etwas aufnehmen, - so was in der Art, wie ich den egonische Geist aufgenommen habe, passiert die Fantasie in unserer Welt und nicht in der Welt der menschlichen Gedanken und des menschlichen Geistes. Ja, die Behörden wussten schon, warum dieses Verbot so streng geahndet wird. Die Gefahr besteht nicht für sich selbst, sondern viel mehr für andere Menschen und ihre Umgebung.“
„Das mit der Fantasie, - das haben doch auch die Egonier herausgefunden, oder?“ fragt Sabine.
„Ja, eben weil sie Bilder um unsere Köpfe sehen. Und sie sahen, dass sich manche dieser Bilder in einer anderen Dimension manifestieren.
Manche Menschen haben früher oft gesagt, dass wir unser Leben selbst schaffen, - dass wir sozusagen unsere Welt ständig manifestieren. Sie waren der Wahrheit sehr nahe, nur mit dem Unterschied, dass wir nicht diese Welt, sondern andere Welten schaffen. Diese Welt ist wie wir, - so sagen zumindest die Egonier, - sie ist reine Energie, die sich in unzähligen imaginären Blasen materialisiert. Aber es gibt noch andere Welten, die ebenso materialisiert werden und diese gehen von den Lebewesen aus. Andererseits besteht kein Unterschied, weil diese andere Welten, die durch Gedanken und Fantasie entstehen, nichts anderes als Emanationen der reinen Energie sind.“
„Schön und gut! Aber wie schaffst du es, unerkannt auf den Planeten der Egonier zu kommen?“ fragt Sabine.
„Ich möchte dich nicht mit hineinziehen, also belass es dabei, dass du mich heute zum letzten Mal siehst.“
 
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10.) Episode

Selma und Bernhard haben es sich inzwischen in Bernhards Appartement bequem gemacht. Sie lösen sich aus der innigen Umarmung und lächeln sich glückselig an. Sex ist zwischen Menschen und Egonier möglich, da sie dieselben Geschlechtsmerkmale haben, hingegen können sie miteinander keine Kinder zeugen.
„Was würden deine Eltern sagen, wenn wir heiraten?“ fragt Bernhard.
„Sie sind ziemlich offen, was die unterschiedlichen Völker betrifft, aber ich weiß nicht, wie sie reagieren, wenn es die eigene Tochter betrifft“, antwortet Selma. „Hast du etwa vor, mich zu heiraten?“
Bernhard lacht.
„Der Gedanke ist nicht so abwegig. Verliebt habe ich mich bereits in dich.“
„Ich könnte mir ein gemeinsames Leben mit dir auch gut vorstellen. Aber es würde schwer für uns beide, weil wir ja doch sehr unterschiedlich sind, was das Bewusstsein anbelangt.“
„Wie meinst du das?“ fragt Bernhard und setzt sich im Bett auf.
„Ich darf es dir eigentlich gar nicht erzählen, aber ich vertraue dir und kann auch sehen, dass du stillschweigen wirst“, beginnt Selma. „Morgen früh sollte ich mit den anderen Egoniern des Theaters abreisen. Aber ich bleibe noch einige Tage hier, weil ich meinen Ausweis einer Menschenfrau gegeben habe, die unbedingt auf unseren Planeten auswandern muss. Das alles habe ich bereits mit meinem Vater arrangiert. Er wird mir in den nächsten Tagen den Ausweis persönlich wieder in das Hotel bringen, in dem ich zurzeit wohne.
Die Sache ist die: Die Menschenfrau hat sich mit einem Egonier angefreundet, - so wie wir beide. Dem ist nichts auszusetzen. Aber sie hat auch bei einer Meditation teilgenommen und war so empfänglich dafür, dass sie unser Bewusstsein – wie nennen es ‚Geist’ – angenommen hat. Es dauert noch einen guten Tag, bis der egonische Geist vollkommen von ihr Besitz genommen hat. Wenn das hier auf der Erde passiert, kann niemand für ein Unglück garantieren.“
„Warum Unglück?“ fragt Bernhard.
„Menschen sind mit einer enormen Fantasie gesegnet, die normalerweise auf der Erde keine Wirkung zeigt. Wird aber diese Fantasie mit dem egonischen Geist gepaart, materialisiert sich alles, was der Mensch gerade denkt oder fantasiert.“
„Aber wenn der egonische Geist vollkommen Besitz von der Frau nimmt, wird dann die Fantasie nicht ausgelöscht?“
„Das ist es ja“, antwortet Selma. „Leider bleiben einige menschliche Rückstände zurück, und die Fantasie ist einer davon.“
„Woher wisst ihr das so genau?“
„Weil diese Menschenfrau nicht die erste ist, die an unseren Meditationen teilgenommen hat. Manche haben nicht angesprochen, aber besonders sensible Menschen sprechen an und empfangen gegen ihren Willen den egonischen Geist.
Die Frau vergisst sich auch nicht selbst, wenn der egonische Geist Besitz von ihr ergriffen hat. Sie ist noch immer die Selbe, mit denselben Erinnerungen und demselben Charakter.“
„Und wie wirkt sich die Fantasie auf euren Planeten aus?“ fragt Bernhard.
„Gar nicht. Deshalb muss sie auswandern, um sich vor sich selbst und auch um die anderen Menschen zu schützen. Sie darf nie wieder auf die Erde zurück, denn nur auf der Erde zeigt ihre Fantasie diese Auswirkungen.“
„Und ich wollte dich schon darum bitte, bei einer eurer religiösen Riten dabei sein zu dürfen.“
„Das kannst du, aber dann solltest du ebenso auswandern, ohne dass die Behörden hier Wind davon bekommen. Du weißt ja, die Strafen dafür sind hier sehr hoch.“
Bernhard nickt.
„Das weiß ich, aber ich glaube, ich kann nicht auswandern. Ich habe einen besonders gut bezahlten Job und obendrein mag ich meinen Job.“
„Ach, du dachtest, ich werde auswandern und für immer auf der Erde bleiben und dir eine gute Frau sein“, sagt Selma und zieht die sanft geschwungenen Brauen ironisch hoch.
„Na ja, irgendwie dachte ich das.“
„Weißt du, ich habe auch einen gut bezahlten Job auf unserem Planeten und kann es kaum erwarten, ihn so richtig auszuleben. Ich werde als Botschafterin viele Reisen unternehmen und dann wohl kaum eine gute Hausfrau und Mutter sein.“
Die beiden schweigen eine Weile etwas betroffen, dann findet Bernhard wieder das Wort: „Diese Frau wird also mit deinem Ausweis reisen. Aber man wird doch anhand des Fotos feststellen, dass ihr der Ausweis nicht gehört.“
Selma lacht auf.
„Unsere Theatergruppe hat das nötige Schminkzeug und wird diese Frau mir so ähnlich machen, dass nicht einmal meine Eltern Verdacht schöpfen. Und als Botschafterin muss sie auch nicht durch den elektronischen Kontrollraum. Mein Vater wird dann dafür sorgen, dass sie einen gültigen Ausweis auf unserem Planeten bekommt.“
„Wird sie mit dem Egonier zusammen leben?“ fragt Bernhard.
„Höchstwahrscheinlich, denn ich weiß von Horan, - so heißt der Egonier, dass er diese Menschenfrau sehr liebt. Sie haben sich bereits vor einem Jahr kennen gelernt und immer getroffen, wenn er auf die Erde kam. Anita, so der Name der Menschenfrau, ist verheiratet und hat Kinder. Sie wollte ihre Ehe nicht aufs Spiel setzen, aber gegen Liebe ist wohl kein Kraut gewachsen. Ich weiß nicht genau, wie es zu der Einladung zur Meditation kam, auf jeden Fall war Anita nachher bewusstlos. Als sie wieder zu sich kam, war sie sichtlich verwirrt und konnte kaum sprechen. Aber sie ging zurück nach Hause und beichtete alles ihrem Mann. Er warf sie hinaus und behielt die Kinder. Anita suchte sich eine kleine Wohnung, in der sie bis jetzt lebte und wo sie Horan empfing, wenn er auf die Erde kam. Horan kam zu mir und erzählte mir das alles. Er bat mich, ihnen zu helfen, was ich auch tat, indem ich zu meinem Vater ging und er nun bereit ist, Anita noch rechtzeitig auf unserem Planeten zu empfangen.“
 
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11.) Episode

Es verläuft alles zu Anitas Gunsten. Sie wird von Horan und Selmas Vater an der Flugstation Syr empfangen. Selmas Vater fliegt mit demselben Raumgleiter auf die Erde, um seiner Tochter den Ausweis zurück zu bringen.
Anita muss nicht „verkleidet“ auf dem Planeten der Egonier leben. Dieses Volk ist aufgeschlossener als die Menschen, und Verbote gibt es auch nicht so viele, obwohl das Verbot der Religionsanschlüsse in der gesamten Galaxie gilt. Aber was die Regierung nicht weiß, macht sie nicht hei߅

Nach der Hochzeit von Anita und Horan haben sich die beiden bereits in ihrem Domizil eingelebt und sind überaus glücklich.
An irgendeinem Tag bittet Anita ihren Horan: „Erzähl mir von der Dimension der Gedanken und der Fantasie.“
„Ich kann sie dir zeigen, wenn du willst. Jetzt, wo der egonische Geist vollkommen von dir Besitz ergriffen hat, ist es dir, wie mir, möglich, wirklich dorthin zu reisen.“

Mit einem Mobil fahren Anita und Horan zu einem geheimen Ort, an dem sich nur ausgewählte Egonier zu einer bestimmten Zeit treffen. Es ist ein unterirdischer Ort, der mit einem bestimmten Schlüssel zu erreichen ist. Horan besitzt so einen Schlüssel, da er zu den Auserwählten gehört. Laut Gesetz sind auch die Frauen der Auserwählten berechtigt, den geheimen Ort aufzusuchen.
Die unterirdische Halle ist dürftig eingerichtet. Auf dem Kalksteinboden liegen einige Matten. Von der Decke strahlt eine dürftige Beleuchtung.
„Leg dich auf eine der Matten. Ich lege mich dann zu dir“, sagt Horan und Anita tut, was er sagt.
„Jetzt konzentriere dich mit deinem ganzen Geist auf deine Nabelgegend. Als Frau hast du es leichter, da du eine Gebärmutter hast. Verlagere deine ganze Kraft in deine Gebärmutter und wenn du das getan hast, lass alles los, was sich in deinen Gedanken zeigt.“
„Warum meine Gebärmutter?“ fragt Anita.
„Weil sich dort im Allgemeinen die Kraft befindet, die alles Leben schafft. Bei Männern befindet sich diese Kraft etwa zweifingerdick unter dem Nabel. Die Dimension der Gedanken und Fantasie ist ein erschaffenes Reich der Emanationen der reinen Energie, und es kann nur mit der kreativen Kraft erreicht werden. Du selbst wirst in wenigen Augenblicken diese kreative Kraft sein und die Dimension der Gedanken und Fantasie sehen können. Du wirst körperlos sein und doch wirst du sehen, hören und fühlen können. Konzentriere dich jetzt.“
Nach einer Weile spürt Anita, wie sich etwas in ihrer Gebärmutter zusammenballt. Es ist eine unheimlich anziehende Kraft, wie ein Magnet, der ihre gesamte Persönlichkeit einsaugt. Im nächsten Moment – urplötzlich – sieht sie sich von einer unbeschreiblichen Welt umgeben, in der Einhörner, Drachen, Hexen, Zauberer, Zwerge, Götter, Göttinnen und viele andere seltsame Wesen existieren. Jeden Augenblick verändert sich die Szenerie in eine andere wundersame Welt voller Fantasien.
„Wir dürfen nicht all zu lange hier bleiben“, fühlt Anita Horans Stimme.
„Wie kannst du hier sprechen?“ fragt Anita.
„Geräusche sind Schallwellen. Als Energie, als Kraft können wir ebenso Schallwellen aussenden, die wir empfangen und deuten können.“
„Warum können wir nicht all zu lange hier bleiben?“ fragt Anita.
„Gedanken und Fantasien sterben mit der Zeit, und es könnte sein, dass sie uns mit sich reißen.“
„Sind wir auch sterblich?“
„Alles ist sterblich in den Welten der Veränderung“, sagt Horan. „Wir sind die Veränderungen und sterben in jedem Augenblick neu.“
„Aber in jedem Augenblick werden wir auch wieder neu geboren, oder?“
„Ja, aber irgendwann einmal gehen wir auch wieder dorthin zurück, woher wir gekommen sind.“
„Und wo ist das?“ fragt Anita.
„In der Bewegungslosigkeit, wo es keine Zeit und keinen Raum gibt. Dorthin, wo es kein Bewusstsein gibt…“
„…kein Auge, kein Ohr, keine Nase, keine Zunge, keinen Körper, keinen Geist“, vollendet Anita Horans Satz.
„Du weißt es!“ jubelt Horan.
„Ich weiß es nicht. Das ist nur ein Satz aus einer der alten irdischen Religionen. Es stammt aus dem Herz-Sutra und ist von einem der Buddhas geschrieben worden. Die Anhänger dieser Religion nennen dies das reine Sein.“
„Wie die reine Energie“, sagt Horan.
„Eigentlich möchte ich hier bleiben. Es scheint so friedlich zu sein.“
„Dies ist die obere Ebene der Gedanken und Fantasie. Wenn wir länger hier bleiben, wird es uns in die unteren Ebenen ziehen, wo es nicht mehr so friedvoll zugeht.“
„Schau mal, Horan, dort steht ein Baum. Er erinnert mich an den Baum der Erkenntnis.“
„Das ist der Baum der Erkenntnis“, sagt Horan.
„Also doch nur Fantasie“, klingt Anitas Schwingung bitter.
„Das muss nicht sein. Nicht alles, was du hier wahrnimmst, ist reine Fantasie. Manches der Fantasie ist realer als die Wirklichkeit. Aber komm jetzt, denn ich möchte dir die Reise in die unteren Ebenen ersparen. Sie können wirklich grausam erscheinen.“

Anita erhebt sich von der Matte. Sie ist noch leicht schwindlig und lehnt sich an Horan.
„Weißt du, ich dachte, mein Geist wird meinen Körper verlassen und irgendwohin fliegen, aber ich spürte nichts dergleichen“, sagt sie müde.
„Es war wie eine Reise in uns selbst. Geist und Körper sind eins. Sie können genauso wenig getrennt werden wie wir von der reinen Energie. Und doch sind wir nur so etwas wie ihre Träume, die irgendwann einmal verpuffen wie Gedanken und Fantasie.“
Anita seufzt.
„Ich bin gar nicht traurig darüber“, sagt sie etwas später. „Ich meine, es berührt mich nicht, dass wir irgendwann einmal verpuffen. In den letzten Tagen hatte ich auf der Erde seltsame Gefühle. Immer wieder das Selbe, - am Morgen aufstehen, mich waschen, etwas essen, ein bisschen was arbeiten, am Abend wieder mich waschen, zu Bett gehen. Weißt du, dieses ständige Tun. Wofür eigentlich? Und dann all die Veränderungen! All die Abschiede, die wir über uns ergehen lassen müssen. Das Leben besteht doch sehr viel mehr aus Leid, als aus Freude.“
„Hier ist es nicht viel anders, meine Geliebte. Auch hier besteht das Leben aus Tun.“
„Ich weiß, Geliebter. Aber ich saß auf der Erde oft nur einfach da und dachte daran, wie es wäre, nie wieder etwas zu tun, nie wieder etwas denken zu müssen und einfach nur zu sein, - ja, einfach nur sein, ohne Zeit und ohne Raum.
„Meinst du, das Leben hat keinen Sinn?“ fragt Horan.
„Diese Frage haben sich schon sehr viele Menschen gestellt, aber ich habe noch nie eine zufrieden stellende Antwort gehört“, sagt Anita.
„Das ist, weil wir die Trennung fühlen. Im reinen Sein, in der reinen Energie erkennen wir den Sinn und werden uns wieder in irgendeine der unzähligen Blasen begeben, - so lange, bis wir auch in einer der Blasen einen Sinn erkennen.“
„Und dann?“
„Nun, ich denke, dann haben wir keine Fragen mehr.“
 
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