Lieber Reinhard!
Was beunruhigt Dich an Harry's Aussagen, dass Du - ganz entgegen Deiner sonst so oft beschworenen Toleranz und Gleichwertigkeit der verschiedenen Weltbilder zu doch sehr heftigen Abwertungen greifen musst ?
Nichts. Und die Zitierung meiner Textpassagen zeigt in der Wiederholung und im Fettdruck eh ganz deutlich, dass ich mit "Ich habe das Bestreben..." - "Ich habe das Gefühl..." - "Ich denke..." schlicht zum Ausdruck bringen wollte, dass ich meiner Meinung nach sehr ähnliche Erfahrungen machen durfte, allerdings in ganz anderer Weise, und dass mein Umgang mit dem Numinosen eben anders aussieht - grob so, wie ich ihn beschrieben habe. Ich habe die Unterschiede im Umgang mit Begrifflichkeiten des Spirituellen deshalb betont, weil es mir wichtig erschien, dieses Erlebnis losgelöst von Worten, die es nicht wirklich umfassen können (meine Meinung), zu achten und zu würdigen. Ich habe auch den Eindruck, dass das bei Harry so angekommen ist.
Was meine Formulierungen betrifft, die Du als abwertend bezeichnest: Zu denen stehe ich als Ausdruck meines Verständnisses von Sagbarem und nicht Sagbarem. Gerade im Zeichen von Toleranz und Gleichwertigkeit lege ich Wert darauf, da auch meine Anschauung haben und sagen zu dürfen, und wenn sie mit einer anderen nicht kompatibel erscheint, dann ist damit nichts über die Berechtigung oder "Richtigkeit" der einen oder anderen gesagt, oder? Nebenbei: welcher rhetorische Untergriff liegt in einer Formulierung wie "sonst so oft beschworenen Toleranz"!?
Sie nimmt all die vielen Ausreden, im gewohnten Elend oder zumindest in Halbherzigkeit zu verharren.
Das ist das, was ich mit dem Schmidt-Zitat ausgedrückt habe.
Anekdoten können sich nicht wehren. Ja - dort steht, vorher sorgte ich für meine Grundbedürfnisse und nachher sorgte ich für meine Grundbedürfnisse.
Nein, dort steht viel mehr. Und es ging - wie ich es verstanden habe - in dem Beispiel von Harry eben gerade nicht um das konkret Umordnende einer Aufstellung, sondern um das Geschenk einer spontan sich einstellenden "Klarheit über alles", um eine Erfahrung, die vielleicht eine Ahnung vermittelt, was Erleuchtung sein könnte.
Das ist eine ehrliche Frage, Jake : wieso kannst Du gerade in diesem Punkt nicht einfach Deine Erfahrungen neben die von Harry stellen und greifst (für Dich völlig unüblich) zu Abwertungen ?
Ehrliche Antwort: Nichts anderes habe ich getan. Und weil es meine - und damit andere - Erfahrungen sind, habe ich beschrieben, wo sie mir ähnlich erscheinen und wo sie sich unterscheiden. Und Harry hatte ja nicht nur um Erfahrungen nachgefragt, sondern auch noch die Frage gestellt, wie solche Ausnahmeerfahrungen sich mit dem Alltag vertragen - von daher rührt mein Vergleich mit Suchtmechanismen. Mir scheint es schon ein wesentlicher Faktor von Sucht zu sein, dass die Suche nach der außergewöhnlichen, das Leben in ein anderes Licht tauchenden Erfahrung dann zur Sucht werden kann, wenn ich über ein Suchtmittel verfüge, das mir diese Erfahrung (bzw. die Illusion davon) vermitteln kann. Das kann eine Droge sein, das kann die Vermittlung von Sekundärgefühlen über den Fernsehapparat sein, das können (können!) auch Aufstellungen sein. Das sagt nun in keiner Weise Abwertendes aus über jemand, der gern mal ein Glas Bier trinkt, der einen TV-Apparat daheim stehen hat oder der Aufstellungen als Möglichkeit schätzt, Erfahrungen mit sich und der Welt zu machen. Letzten Endes hat es genau mit dieser Frage zu tun, wie ich die numinose Erfahrung mit dem Alltag verbinde - meine ich. Goethe kannte das auch schon, wenn er seinen Faust den Pakt mit Mephisto schließen lässt, dass seine Seele des Teufels sein solle, wenn er zum Augenblick sagt, er möge doch verweilen, weil er so schön sei.
Wie auch immer, wenn ich da einen empfindlichen Punkt mit missverständlichen Worten verletzt haben sollte, tut es mir leid.
Alles Liebe,
Jake