Ein psychisch gesunder Mensch dehnt im Verlaufe der Persönlichkeitsentwicklung vom Kind zum (vollständig!) Erwachsenen die Grenzen dessen, was er als "Ich" empfindet und definiert, zunehmend aus. Das Identitätsgefühl wird somit immer umfassender, während gleichzeitig die Empfindung von Abgegrenztheit immer kleiner wird. Man könnte sagen, dass er die Grenzen "integriert" oder "verinnerlicht".
Die meisten Menschen schaffen nur ein paar Integrationsschritte problemlos, bleiben dann aber irgendwo stehen, ganz einfach deshalb, weil es SEHR schwierig ist, über das Identitätsniveau hinauszugehen, welches das eigene Umfeld hauptsächlich aufrechterhält.
Eine v.a. unter Jugendlichen im Alter von ca. 16 Jahren weit verbreitete Identitätsgrenze ist diejenige, welche sehr anschaulich im Roman "Der Steppenwolf" von H. Hesse beschrieben ist. Das Identitätsgefühl einer solchen Person ist eine fundamentale Spaltung zwischen zwei unvereinbaren Persönlichkeitsanteilen. Meist sagen solche Menschen von sich: "Ich habe zwei unvereinbare Seiten an/in mir. Die eine ist eine freiheitsliebende, nach maximaler Unabhängigkeit strebende, naturverbundene, wilde, körpernahe und quasi anti-soziale Seite (der "Steppenwolf" also), während die andere eine nach emotionaler Geborgenheit und Gemeinschaft strebende, "soziale" und vergeistigte Natur ist." Die beiden Persönlichkeitsanteile werden als grundsätzlich unvereinbar erlebt, als zwei Seiten einer Polarität. Erst wenn der Jugendliche lernt, dass die beiden Seiten ganz und gar nicht unvereinbar sind, ganz einfach deshalb, weil der Mensch eben nicht zwei-polig, sondern hunderttausend-polig geartet ist, dann dehnt sich das Identitätsgefühl aus, die Ich-Grenze wird weiter gelegt.
Wird dieser Integrationsschritt geschafft, so stellt der Mensch zum ersten Mal eine Einheit "in sich selbst" her. Er hat jetzt die eigenen Emotionen, Gedanken und den Körper zu einer Einheit integriert, in seinem Weltbild ist genügend Platz für die Bedürfnisse von Körper, Gefühl und Geist (die Seele lassen wir hier mal Weg). Aber das ist noch längst nicht das Ende - und auch nicht der Anfang. Dem Integrationsschritt des "Steppenwolfs" zum "Individuum" sind bereits einige Integrationsschritte vorangegangen, auf die ich hier nicht näher eingehen will.
Die heute im Westen vermutlich am weitesten verbreitete Identität, welche erst dann auftauchen kann, wenn die zuvor beschriebene Grenzziehung vom Steppenwolf hin zum echten Individuum aufgelöst wurde, ist diejenige, welche an der Aussenhaut des Körpers halt macht. Die körperliche Aussenhaut dient als Grenze, welches dann entsprechend das Ich-Gefühl beherbergen muss. Das typische Weltbild hat sich nun im Vergleich zum Steppenwolf verändert. Die Grenzziehung zwischen "innen und aussen" verläuft nicht mehr innerhalb von Persönlichkeitsanteilen, sondern zwischen der Aussenhaut des Körpers und dem Rest der Welt. Das Weltbild entspricht dem Menschen, der von sich sagt: "Ich bin ich, und ich lebe in der Welt." Der Mensch mit diesem Ich-Gefühl ist typischerweise im Konflikt mit der Umwelt. Sehr oft ist dieser Mensch vor die Sinnfrage gestellt: Was ist der "Sinn des Lebens"? Warum gibt es mich überhaupt? Ich nenne diesen Mensch den "existentiellen Menschen", weil er sich zwar seiner Existenz bewusst ist, aber er eben auch "existentiell gefangen" ist in einer grundsätzlich absurden Welt, in welcher er bloss als Gast herumgeistert, ohne genau zu wissen, was der Sinn und zweck dieses Aufenthalts in dem ihm fremd erscheinenden Leben ist.
Diese Grenzziehung ist im Grunde ebenso völlig willkürlich - und das werden vermutlich einige Leute, die das lesen, vorerst nicht verstehen (dazu weiter unten mehr). Selbstverständlich ist der Mensch MEHR als bloss die Aussenhaut seines Körpers. Wer sich einmal Gedanken darüber gemacht hat, WO GENAU ein Gefühl ist, wenn eine Gruppe lacht, der kriegt schon eine vage Vorstellung davon, dass offenbar sowas wie ein Gefühl nicht einfach einem Körper zuzurechnen ist, sondern dass es sich auf wundersame Weise um einen Effekt handeln muss, der einer dynamischen Austauschbeziehung gleichkommt. An diesem Punkt setzt auch eine im tib. Buddhismus oft praktizierte Meditation an, welche die gedankliche Durchdringung der Sache ist. Indem sich die Person damit auseinandersetzt, was das Wesen eines Körpers ist, wenn vom Körper nach und nach Anteile weggenommen werden, findet die Person langsam zur Erkenntnis, dass sie weitaus mehr ist, als die Grenzziehung zur Aussenhaut zulässt. Also: Was ist der Körper? Was ist der Körper, wenn ich ein Bein entferne? Und einen Arm? Und ein zweites Bein? Und den zweiten Arm? (Es GIBT Menschen ohne Arme und Beine!!) Und dann den Bauch? Und den Kopf? Was bleibt dann von MIR übrig?
Auf ähnliche Weise funktioniert die bekannte neti-neti-Meditation ("nicht dies, nicht das"), aber diese geht i.a. noch weiter, da sie radikal alle phänomenalen Erscheinungen negiert.
Schafft der Mensch diesen Entwicklungsschritt, so wird er zum ersten Mal ein wirklich ganzer Mensch, der nicht mehr mit seiner Umgebung im Widerspruch und Kampf steht, sondern sich ihrer bedient, sich als aktiver Teil der Welt versteht, an ihr teilnimmt etc.
Das ist noch längst nicht der Endpunkt, aber es ist das erste Identitätsgefühl, das ich überhaupt als "erwachsen" bezeichnen würde. (Und, wenn man den Statistiken trauen kann, so befinden wir uns damit immerhin bereits signifikant jenseits des Medians der Stichprobe aller Menschen.)
An dieser Stelle passiert etwas ganz merkwürdiges. Der Mensch hat zwar zu einer Einheit gefunden mit allen oder den allermeisten seinen Persönlichkeitsanteile, wie auch im grossen und ganzen mit der Umwelt - aber er wird sich zum ersten Mal klar, dass da trotzdem etwas falsch läuft. Denn: Egal, was auch immer er tut, was er denkt, was er fühlt - JEDES MAL setzt er damit willkürlich eine Grenze, das heisst, jedesmal erfindet er sich ein "Ich", das von der Welt abgetrennt ist und daher mit sich im Konflikt steht. Der Mensch, der sich dieser Sache bewusst wird, beginnt also das Grenzziehen selbst zu hinterfragen - und also hinterfragt er JEDE Grenze. Zwar versteht er überhaupt nicht, was denn "jenseits" des Grenzziehens existieren kann, aber er begreift, dass seine Ich-Vorstellungen - JEDE Ich-Vorstellung - einem fatalen, fundamentalen Fehler unterläuft. (Diesen Mechanismus der Bewusstwerdung konnten wir hier sehr schön im Forum mehrere Male an mehreren Forumsteilnehmern mitverfolgen. Das ist kein Zufall. Hier gibt es überdurchschnittlich viele Menschen, die sich mit Meditation beschäftigen oder anderen esoterischen Techniken, und alle diese Techniken haben einzig den Zweck, genau diese Mechanismen in Gang zu setzen.)
Dies ist vermutlich einer der schwierigsten Integrationsschritte überhaupt. Es gibt Menschen, die über Monate hinweg sich mit allen möglichen Arten von körperlichen Schmerzen konfrontiert sehen (va. Rücken-, Hüft- und Kopfschmerzen), die meisten stürzen vorübergehend in eine Phase totaler Desorientierung und tiefgehender Depression.
Aber das Resultat ist ein gesunder Mensch! Ein Mensch mit MEHR und nicht weniger Ganzheit! Der Mensch, der diesen Integrationsschritt schafft, wird über alle Massen belohnt. Zum ersten Mal steht er bewusst (!) im Kontakt mit der eigenen Seele, auch wenn seine Vorstellung davon noch recht vage und unausgegoren ist. Viele dieser Menschen sagen: "Ich habe mein Ich verloren.", weil sie damit ausdrücken wollen, dass JEDE Grenzziehung zwischen Innen und Aussen willkürlich ist. Diese Menschen betonen, dass es kein Aussen und kein Innen geben kann. Dies ist das erste Mal, dass der Mensch eine echte, tiefe Spiritualität zu erleben in der Lage ist, alles vorher beruhte immer bloss auf Vorstellungen, Konzepten, Glauben u.ä. Hier aber WEISS der Mensch zum ersten Mal um die fundamentale Grenzenlosigkeit seines Menschseins. Man könnte symbolisch sagen, dass der Mensch jetzt die Grenze so weit ausgedehnt hat, dass sie auch seine Seele mit einschliesst, aber eins mit Gott ist dieser Mensch noch nicht. (Hier werden nicht wenige Leser wohl den Kopf schütteln, und diesen Eintrag als hohles Geschwätz abtun. Das dürfen sie, es kümmert mich nicht. Wer das erlebt hat, wer diesen Integrationsschritt durchlebt hat, der wird sich hier wiederfinden, und das sind nun mal nicht allzu viele Menschen.) Menschen, die diesen Integrationsschritt geschafft haben, zeichnen sich nicht selten durch eine überaus einnehmende Herzlichkeit und Lebensfreude aus.
Ist das nun alles? Nein, bei weitem noch nicht. Die Geschichte geht noch immer weiter. Die Person, die also die eigene Seele integriert hat, beginnt erstmal, ganz viele geistige Konzepte zu hinterfragen. Die Person ist zwar eins mit der Seele, aber sie ist noch immer verhaftet mit ihrem Körper, ihren Emotionen, und vor allem ihren geistigen Konzepten. Das beginnt sie nun langfristig abzubauen. Die Person beginnt nun, sich auf allen den vorher genannten Ebenen willentlich hin- und herzubewegen, sie durchschaut die Relativität aller zuvor gemachten Grenzziehungen. Während sie im letzten Integrationsschritt zum ersten Mal die Grenze zwischen Seele und dem Individuum überschritt, wird sie hier zum Meister des Überschreitens und kann beliebig hin- und herwechseln. Die Grenze zwischen Seele und Individuum verschwindet also. (Das ist der Integrationsschritt, auf welcher ein Mensch zum ersten Mal eine Ahnung von den "Siddhis" kriegt. Manche Menschen entwickeln hier erstaunliche Fähigkeiten. Und natürlich, wie könnte es auch anders sein, halten die meisten "Wissenschaftler" sowas für völligen Unsinn, was nicht weiter verwunderlich ist.) Menschen, die diesen Integrationsschritt schaffen, zeichnen sich durch die Ausstrahlung von Selbstbewusstsein, Authorität und Macht aus - freilich völlig ohne, dass sie etwas dazu tun, es ist einfach ihre Ausstrahlung.
Über diesen und die darauf folgenden Integrationsschritte kann ich nur sehr wenig aussagen. Es scheint sich so zu verhalten, dass der Mensch, wenn er diesen Schritt schafft, jegliche Phänomenalität der Welt als gleichwertig empfindet, weil er die Grenzen so weit ausgedehnt hat, dass sie buchstäblich alles umfassen, was irgendwie wahrgenommen werden kann. Ein solcher Mensch wird zum Bezeuger aller Phänomene. Viele dieser Menschen strahlen ein enormes Gefühl von Friede und Ruhe aus. Eckhart Tolle dürfte eine bekannte Person sein, die auch diesen Integrationsschritt genommen hat. Danach folgt der "letzte noch mögliche" Integrationsschritt, bei welchem auch die Position des Zeugen aufgegeben wird. Es gibt heute praktisch keine Menschen, die diesen Integrationsschritt in ihrem Leben jemals zurückzulegen imstande sind, und die es tun, sind praktisch ausschliesslich ganz grosse Yogis, tief verwirklichte Zen-Meister u.ä. Für diese Menschen gibt es keine Grenzen mehr.
Wichtig ist zu erkennen, dass im Grunde jede Grenzziehung willkürlich, beschränkend, unangebracht ist. Wer von "aussen und innen" redet, der hat eigentlich schon verloren. Der entscheidende Punkt ist, dass immer erst dann die vorausgegangene Identifizierung durchschaut werden kann, wenn der Integrationsschritt durchlebt wurde. Der Mensch ist nie in der Lage, seine aktuelle Situation zu durchschauen und damit auch nicht, welchen ungeheuren Zwang die jeweilige (allzu enge) Definition der Ich-Identität auf die Person tatsächlich ausübt. Wäre sie in der Lage, das zu erkennen, so würde sie nämlich sofort und problemlos den Integrationsschritt schaffen in einem Akt der Selbstausdehnung des Identitätsgefühls. Das ist ganz zentral und gilt für allen Grenzziehungen: JEDES dieser Selbstbilder ist fundamental selbstbestätigend, selbst-rekursiv und kann auf der Stufe, auf der das "Problem" auftaucht NICHT gelöst werden! Eine Person wird IMMER ihr eigenes Weltbild automatisch als das einzig richtige empfinden und die anderen (umfassenderen Identitäten) partout und entschieden als falsch und pathologisch erklären, weil sie es selbst noch nicht geschafft hat, ihre eigenen Irrtümer, also die Willkürlichkeit der Grenzziehung des Ich-Gefühls, zu durchschauen. Genau deshalb würden bei uns auch so gut wie alle christlichen Heiligen heute als psychisch krank gelten, weil nämlich die Gilde der Psychiater zumeist die notwendigen Integrationsschritte nicht bei sich vorzunehmen imstande war.
Alles Besagte gilt insbesondere für mich selbst.