0.0000001%: Über das Leben nach dem Tode

H

Horla

Guest
Dein weißes Haar, deine wächserne Haut,
deine Raubvogelklauen, dein welkes Gesicht,
deine starrenden Augen, mit künstlichem Licht
bestmöglich in Szene gesetzt.
So liegst du da, du vorzüglichste Braut
deines fernen Erlösers. Er zeigte sich nicht;
wie ein Küken indes, das die Schale zerbricht,
entfloh deine Seele zuletzt.

Sie floh zu weit, weit hinaus in die Nacht,
in die lichtlosen Weiten der Spekulation,
wo nicht Körper noch Urlaub noch Münztelefon
noch E- oder Briefpost bekannt.
Der Pfarrer Schmidt hat nur bitter gelacht,
als ich jüngst nach dir fragte, als wüsste er schon,
dass ob all deiner Sünden nur Kummer und Fron
die Seele statt Seelenheil fand.

Hans-Peter Schultz, dieser Drecksphilosoph,
widerlegte mir darauf auf logische Art
nur die christliche Weltsicht - Gottvater mit Bart -,
verstummte sodann und ging fort;
nicht sehr weit fort, nur den Weg bis zum Hof,
den die Schultzes bewohnen; sie arbeiten hart,
melken, schlachten stets selber, weil's Kosten erspart;
ja, günstig und schwer lebt sich's dort!

Ein schlaues Buch, neurologisch behaucht
und recht haberisch wirkend, erklärte mir dann,
was das Großhirn so alles herbeispinnen kann,
hält man es nicht sorgsam instand.
Du bist nur tot, bist ganz einfach verbraucht,
und dein Leben verging, wie dein Leben begann,
und dein Leben verging, und ein Leben ging an,
mit dem dich rein gar nichts verband.

Dein weißes Haar, deine wächserne Haut,
deine Raubvogelklauen, dein welkes Gesicht,
deine starrenden Augen, das künstliche Licht,
Entflohene, warst du nicht mehr?
So lagst du da, niemand hat sich getraut,
deine Wange zu küssen; wir wagten es nicht,
deine Hand zu berühren, aus Angst, dass sie bricht;
die Würmer nur freuten sich sehr.
 
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